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Fremd küssen. Roman

Fremd küssen. Roman

Titel: Fremd küssen. Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steffi von Wolff
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Versehen ein Stück Zeh anstelle des Nagels entfernt. Jedenfalls fühlt es sich so an. »Ach, wie forschbar!«, schreit sie und wirft sieben Handtücher über meinen Fuß. »Net bewege. Stillhalte. Was mache Sie dann für Sache?«, schimpft sie mit mir. »Was e Sauerei!« Ist sie noch ganz dicht? Wer hat denn hier die Sauerei veranstaltet?
    Frau Happy Sun versucht die Blutfontänen mit Frottee zu ersticken, was ihr auch irgendwann gelingt. Dann kippt sie mir einen Liter Jod über die Wunde und behauptet im gleichen Atemzug, das müsste so sein, sonst gäbe es Entzündungen, die bleibende Schäden hervorrufen könnten. Der Schmerz betäubt mich so, dass ich kaum noch Luft kriege. Ich muss an Bob denken, der immer völlig relaxt und entspannt von seinen Wellnesstrips zurückkommt und behauptet, gerade bei der Pedikürebehandlung hätte er »die Seele baumeln lassen können«. Aber egal. Ich ziehe das jetzt durch, bitte aber nun doch um einen kleinen Schnaps. Während Frau Happy Sun mir strahlend die Flasche reicht, fühle ich mich tapfer wie ein Seemann, dem vor Tahiti als einziges Betäubungsmittel Rum zur Verfügung steht, während er bei vierzig Grad im Schatten seinen infizierten Unterschenkel mit der stumpfen Säge des Schiffszimmermanns abgetrennt bekommt.
     
    Plötzlich überfällt mich einer meiner Depri-Anfälle. Das habe ich manchmal, wenn ich meine Tage bekomme. Ist es eigentlich schon wieder so weit? Ich bin fürchterlich schlampig in solchen Sachen. Seitdem ich die Spirale habe, mache ich mir keine Gedanken mehr um Vier-Wochen-Rhythmen. Ich merke es aber, wie gesagt, an meinem Gemütszustand. Bei der kleinsten Kleinigkeit fange ich an zu heulen. Als meine Lieblingssorte Wurst beim Metzger Schlemm mal ausverkauft war, habe ich mich auf den gekachelten Boden gesetzt und leise geweint. Ich nehme vor meinen Tagen auch regelmäßig fünf Kilo zu, meine Haare sind strähnig und mein Gesicht verformt sich vor Pickeln.
    Mir kommt alles so sinnlos vor auf einmal. Ich fühle mich ausgenutzt, nicht ernst genommen, verraten und verkauft. Während ich die Schnapsflasche noch einmal ansetze, lasse ich mein bisheriges Leben im Schnelldurchlauf Revue passieren. Was hab ich denn schon? Wer bin ich denn schon? Habe ich eigentlich wirkliche Freunde? Hat mich überhaupt irgendjemand lieb...? Ich ... ich ... ich ... »Ich bin so unglücklich!«, heule ich plötzlich los, ohne dass ich es will. Frau Happy Sun schaut erschrocken von meinen Füßen hoch. »Ei Kind, was issen los?«, fragt sie entsetzt.
    Alles bricht auf einmal wie ein Wasserfall aus mir heraus. Ich erzähle stammelnd von meinem One-Night-Stand, dem Toten, Richard, Gero, den Flusen auf meinem Blazer, Susannes Mann und dass ich Leichen anschauen musste und dass ich zu fett wäre und dass keiner mich liebt und dass meine Spülmaschine bald den Geist aufgibt und dass mein Lieblings-Bubikopf vertrocknet ist und dass seit drei Wochen die rechte Lampe in der Dunstabzugshaube defekt ist und dass ich mir schon immer eine Katze gewünscht hätte als Kind, aber nie eine bekommen hätte, und dass ich nie einen Mann finden würde, der zu mir passt, und dass ich mir Gedanken darüber mache, wer alles zu meiner Beerdigung kommen würde, und dass ich meine Essenskarte für die Kantine verloren hätte und dass nichts, aber auch nichts mehr noch einen Sinn hätte.
    Frau Happy Sun lässt mich reden, streichelt meinen Fuß und sagt zwischendurch nur »hmhmhm«. Nur einmal steht sie auf, um eine neue Flasche »Jagdstolz« zu holen, die ich ihr sofort aus der Hand reiße. Irgendwann kommen keine Tränen mehr, so fest ich auch presse. Ich wimmere leise vor mich hin, während sich Frau Happy Sun weiter meinen Füßen widmet. Sie sagt immer noch nichts. »Entschuldigung«, murmele ich. Wie peinlich.
    »Des muss Ihne net peinlisch sein, Kindsche!«, sagt sie schließlich mit der Stimme, die ich bei meiner Mutter immer vermisst habe.
    Fast fange ich wieder an zu heulen. Frau Happy Sun ist fertig mit meinen Füßen. »Jetzt mache Sie zehn Minute die Fünf und dann unnerhalde mir zwaa uns emal!«, befiehlt sie.
    Folgsam lege ich mich unter die »Fünf«, ein Ganzkörperbesonnungsgerät mit 180 Watt Leistung. »Nur 8  € für 10 Minuten!!!« Stolz weist Frau Happy Sun mich darauf hin, dass dieses
    Gerät zusätzlich noch über eine Bingo-Taste verfügt, die einem ohne weitere zusätzliche Kosten zwei weitere Minuten Gesichtsbesonnung beschert. Sie verlässt die Kabine und ich fahre das

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