Fremd küssen. Roman
Zehenspitzen. Der eine Absatz ist schon lose. Richard ist stark geschminkt und schwitzt. Meine Wimperntusche läuft ihm in schwarzen Bächen über die Wangen. Henning wirbelt Richard herum und zieht ihn wieder zu sich heran. Dann singen beide laut: »Den Schnee-Schnee-Schnee-Schnee-Walzer tanzen wir … du mit mir, ich mit dir … « Leise schließe ich die Tür wieder und setze mich in die Küche. Ich habe einfach keine Kraft mehr, um mich aufzuregen.
Den Rest des Abends verbringen Henning, Richard und ich gemeinsam. Erst einmal gilt es, nochmals zu der Wohnung der One-Night-Stand-Schwestern zu fahren und dort Hennings Schlüssel sowie seine Klamotten zu holen. Wir beratschlagen, wie wir dies am besten anstellen können, ohne getötet zu werden. Henning schlägt vor, die Polizei um Hilfe zu bitten. Den Gedanken verwerfe ich sofort – nicht auszudenken, wenn die Horrorschwestern den Beamten eine haarsträubende erfundene Story aufs Auge drücken und dann womöglich Henning noch verhaftet wird. Das fehlt gerade noch! Richard hat die glorreiche Idee, so zu tun, als ob ein Wasserrohrbruch in der Wohnung der Schwestern wäre und er, Richard, wäre ein selbstloser Klempner, der gespürt hätte, dass dort ein Wasserrohrbruch ist, und sich demzufolge sofort auf den Weg gemacht hat, um das Wasser zu stoppen. Auf meine Frage, wie er denn mit dieser Geschichte an Hennings Sachen kommen will, behauptet er, dass das ganz einfach sei. Er, Richard, würde, während er den Wasserrohrbruch sucht, behaupten, dass er Schlüssel sammelt und ein Fetischist getragener Kleidungsstücke wäre. Und ruck, zuck hätte er alles beisammen. Eine tolle Idee! Richard ist beleidigt und sagt, dass mir erst mal was Besseres einfallen soll. Er hat ja Recht.
Ich komme schließlich zu dem Ergebnis, dass es das Einfachste sein wird, zu der Wohnung hinzufahren, zu klingeln und zu sagen: »Wir hätten gerne die Sachen!« Henning schnaubt laut auf und meint, wenn ich lebensmüde wäre, könnte ich es ja so machen. Ich riskiere es. Gemeinsam mit Richard fahren wir zu der verhassten Adresse. Henning bleibt im Auto sitzen. Leider kann er uns nicht sagen, wie Frau Haudrauf mit Nachnamen heißt, was aber auch nichts gebracht hätte, da auf keinem Klingelschild ein Name steht. Und die Haustür steht sowieso offen. Im zweiten Stock soll das Desaster stattgefunden haben.
In dem dunklen Flur sehe ich meine Hand kaum vor Augen, und eine Korridorbeleuchtung scheint es nicht zu geben. Für Richard allerdings ist dieser Flur die wahre Wonne, da kein Sonnenstrahl eindringen kann. Mit traumwandlerischer Sicherheit zieht er mich die vier Treppen hinter sich hoch. Im zweiten Stock bleiben wir stehen und lauschen. Außer einer Fußballübertragung im Fernsehen aus der einen Wohnung ist nichts zu hören. Ich bekomme Angst. Mir nichts, dir nichts könnte plötzlich ein blutrünstiger Mörder in einer Scream-Maske auftauchen und rufen: »Ich krieg euch!« Mich würde er mit Sicherheit kriegen, da ich nachtblind bin und sofort gegen eine Wand laufen würde. Der Scream-Mörder könnte mich seelenruhig mit dem Messer vierteilen und meine Gedärme zum Trocknen an das Treppengeländer hängen, ohne dass auch nur eine Menschenseele davon Kenntnis nehmen würde!
Richard scheint sich über solche Dinge nie Gedanken zu machen. Er horcht mit einem Ohr an den Türen und arbeitet sich so bis zum Ende des Flures vor. Zwischendurch flüstert er mir zu, was in den Wohnungen gesprochen wird. So erfahren wir interessante Dinge. Ein Mann sucht seine Hausschuhe, in einer anderen Wohnung regt sich eine Frau auf, weil die Kartoffeln angebrannt sind. In der letzten Wohnung wird es interessant. Zwei Frauen streiten sich lautstark. Hier besteht eine reelle Chance, dass wir die Richtigen gefunden haben. Richard winkt mich zu sich heran. »Du bist still!«, befiehlt er mir. »Lass mich nur machen!«
Nur zu gern. Ich bleibe neben ihm stehen. Mir wird plötzlich schwindlig. Woran liegt das nur? Ich bemerke, dass ich gar nicht mehr atme. Das wird es sein.
Richard klopft laut gegen die Tür. Im selben Moment wird diese aufgerissen. Ein reichlich ausgezehrtes Wesen stürmt laut heulend an uns vorbei und schreit: »Du dumme Sau! Du Drecksau!!!«, während sie die Treppen hinunterstürmt. Eine strohdünne Rothaarige kommt zur Tür gelaufen und schreit dem Wesen hinterher: »Verpiss dich, ich will dich hier nicht mehr sehen!« Dann erblickt sie uns und sagt: »Oh, Sie kommen bestimmt wegen dem
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