Fremd küssen. Roman
obere Teil per Knopfdruck herunter. Es saust mit einer derartigen Geschwindigkeit auf mich zu, dass ich mich für einige Sekunden wie ein Folteropfer aus dem Mittelalter fühle, das in die Eiserne Jungfrau gelegt wurde, um das Geständnis zu erpressen, dass es Nachbars Kälbchen mit verhexter Myrrhe vergiftet hat. Zum Glück stoppt das Ding rechtzeitig. Die Wärme tut so unendlich gut, dass ich am liebsten für immer hier liegen bleiben möchte.
Wieder angezogen, gehe ich zurück zu Frau Happy Sun. Sie steht hinter der Theke und deutet auf einen der schicken Barhocker. Ich setze mich. Sie baut sich vor mir auf und verschränkt die Arme vor der Brust. »Sie müsse jetzt emal anfange, was für sisch zu tun, Kindsche!«, ruft sie und erzählt mir von ihrer Tochter, die in den Mittdreißigern exakt dieselbe Phase hatte wie ich. Das Leben läuft an einem vorbei, ohne dass man es aufhalten kann, man selbst fühlt sich ausgenutzt und verbraucht. So war es bei ihrer Doreen auch! Außerdem hatte Doreen auch die falschen Freunde beziehungsweise gar keine! Mit Mitte dreißig, meint Frau Happy Sun, sollte man die grundlegenden Dinge in seinem Leben ändern und sich von überflüssigem Ballast trennen.
Irgendwie klingt das alles logisch, und deswegen frage ich Frau Happy Sun, was ich denn tun soll ihrer Meinung nach. Sofort bückt sie sich und holt eine Visitenkarte aus einer Schublade hinter dem Tresen. Ich lese:
Chantal Döppler
Trainerin für das wahre
ICH
Termine auf Anfrage
Auch für Singles und gescheiterte Existenzen
Die untere Zeile ist offensichtlich maßgeschneidert für mich! »Die Frau Döppler gibt auch Kurse in der Volkshochschul hier am Ort!«, verkündet Frau Happy Sun stolz. Sie beugt sich über den Tisch: »Der nächste beginnt am Montag. Wenn Se wolle, ruf isch die gleich emal an!« Sie grinst verschmitzt. »Mer sin nämmlisch Freundinne!!!« Das sagt sie so, als ob es sich bei Frau Döppler um Königin Silvia von Schweden handeln würde. Ich nicke. Sie klopft mir auf die Schulter und reicht mir die Hand. »Wird gemacht! Übrigens, isch bin die Zoe!« »Carolin«, sage ich, dann nehme ich noch einen Schluck Jagdstolz und schlafe kurze Zeit später, den Kopf auf der Theke, ein. Zoe lässt mich schlafen. Das arme Kind, das.
Nachdem ich von Zoe gegen 18 Uhr geweckt worden bin, mache ich mich langsam auf den Heimweg. Ich bin für Montag um 20 Uhr bei Chantal angemeldet. Zoe wurde nicht müde zu betonen, dass ich nur ausnahmsweise noch einen Platz bekommen habe, weil der zweiwöchige Kurs seit Monaten ausgebucht ist. Aber sie hat Chantal meine verzweifelte Lage offensichtlich so inbrünstig geschildert, dass diese sich ihr Leben lang Vorwürfe gemacht hätte, wenn sie mich nicht noch in den Kurs nimmt. Wer will schon verantwortlich dafür sein, dass eine junge Frau mit einer Kalaschnikow durch die Watzelborner Fußgängerzone rennt und alles niedermäht, was nur einen Hauch von Glück ausstrahlt? Oder wochenlang an einem Strick in ihrer Wohnung baumelt, ohne bemerkt zu werden, weil sie niemanden hat, der sie vermisst.
Was mache ich jetzt mit dem angebrochenen Abend? Ob Henning noch da ist? Na, klar, wo sollte er hin ohne Schlüssel. Insgeheim grinse ich hämisch. Das wird sich jetzt alles ändern. Ihr könnt mich mal. Immer nur kommen, wenn ihr was wollt. Nicht mehr mit mir. Nicht mehr mit mir. Ich nehme mir fest vor, den Ich-Find-Kurs zu besuchen und auch durchzuziehen!
Im Treppenhaus schallt mir schon im Eingangsbereich Musik entgegen. Wer hört denn hier den »Schneewalzer«? Und so laut. Eine Frechheit! Je höher ich komme, desto bewusster wird mir, dass die Musik aus meiner eigenen Wohnung kommt. Ich schließe verwirrt auf. Ist Henning übergeschnappt? Er, der immer darauf achtet, dass er bloß nur mit besonders hipper und trasher Musik in Verbindung gebracht wird??? Leise öffne ich die Tür zum Wohnzimmer. Alles Mobiliar ist an die Wand geschoben worden, und in der Mitte sehe ich Henning und Richard tanzen.
Henning trägt immer noch Richards Jogginganzug, und Richard mein pinkfarbenes Abschlussballkleid von der Tanzschule. Es hing seit 1981 unbenutzt in meinem Schrank und ist ihm ein wenig zu klein. Am Rücken klafft es auseinander. Die Naht ist zum Po hin aufgerissen. Meine Nylons (Christian Dior, das Paar zu 16 Euro) haben bereits neunzehn Laufmaschen. Meine Sandaletten (Donna Karan NY , Sonderangebot für 99 Euro), die er dazu trägt, reichen gerade mal bis kurz hinter die
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