Fremd küssen. Roman
ist man ihm. Die Stewardessen sind allesamt gut aussehend, tragen Halstücher und grinsen ununterbrochen, während sie Decken und Nackenstützen verteilen und die Passagiere darauf hinweisen, das Handgepäck bitte unter dem Sitz zu deponieren. Und dann die Filme, die die Fluggesellschaften immer vor dem Start zeigen. Zur eigenen Sicherheit soll man während des gesamten Fluges angeschnallt bleiben, und die Waschräume sind mit Rauchmeldern ausgestattet, und dann kommt die Passage, wie man sich im Notfall verhalten soll. In den Filmen sind das immer Leute, die ganz ruhig reagieren, wenn eine Tragfläche 10 000 Meter über dem Pazifischen Ozean abbricht und die komplette Elektrik ausfällt. Sie lachen in die Kamera, während Sauerstoffgeräte über ihnen aus Klappen fallen, und setzen sich diese fröhlich auf die Nase. Irgendwann erheben sie sich dann, um langsam und bedächtig den Leuchtpunkten am Boden zu folgen, die sie zu den Notausgängen führen. Da ist eine Rutsche angebracht, über die sie dann in eine Rettungsinsel katapultiert werden, während das Flugzeug sinkt. Natürlich bricht keine Panik aus, sondern alle warten, bis sie an der Reihe sind. Dann setzen sich Familien nebeneinander und rutschen fröhlich gemeinsam wie im Spaßbad hinunter, warten aber zuvor, bis die Ampel »Grün« zeigt. Die Fluggesellschaften wollen einem damit nur die Angst nehmen.
In Wirklichkeit wird es dann so ablaufen, dass die Menschen gar nicht mehr in die Rettungsinsel rutschen können, weil die mitsamt den vierzehn Passagieren, die schon dringesessen haben, von hungrigem Meeresgetier vertilgt wurde. Bei meinem Glück bin ich wahrscheinlich der einzige Mensch, der zufällig überlebt, weil er erst dann rutscht, wenn die Meeresbewohner keinen Hunger mehr haben, und mit letzter Kraft eine einsame Insel erreicht. Dort werde ich wie Tom Hanks in »Cast away« von Kokosnüssen leben und Regenwasser in Blättern sammeln. Nebenbei haue ich mir mit einer Schlittschuhkufe, die angeschwemmt wurde, noch einen vereiterten Zahn raus und kann mir prima mit einem geschliffenen Bambusstab, der als Skalpell dient, meinen Blinddarm entfernen.
Das Entsetzlichste allerdings ist dann der Flug an sich. Sobald die Triebwerke angeworfen werden, wird mir schlecht. Irgendwie laufen die immer unruhig und haben Aussetzer. Dann die nette Stimme des Piloten, der einem erzählt, dass es gleich losgeht. Dann die Beschleunigung auf der Startbahn. Und dann das Abheben. Man sitzt hilflos da und ist auf die Technik und das Know-how anderer Menschen angewiesen. Grausam ist es auch, wenn während des Fluges die Anschnallzeichen plötzlich aufblinken und eine Stewardess durch die Lautsprecher blökt: »Meine sehr verehrten Damen und Herren, ladys and gentlemen, wir durchfliegen gerade ein unruhiges Gebiet, es können Turbulenzen entstehen, wir bitten Sie, sich wieder anzuschnallen und Ihre Sitze aufrecht zu stellen.« Turbulenzen.
Turbulenzen.
In solchen Momenten fallen mir immer diese gruseligen Geschichten ein, die man sich über Flugzeugabstürze erzählt hat, denen Turbulenzen vorausgingen. Alex’ Mutter z.B. ist mal in die Karibik geflogen. Es gab Turbulenzen. Erst wurden alle beruhigt über den Bordlautsprecher, dann sind die Stewardessen mit weißem Gesicht durch den Gang gelaufen und haben gar nichts mehr gesagt. Auf die Frage von Alex’ Mutter: »Ist alles in Ordnung? Müssen wir uns irgendwelche Sorgen machen?« antwortete die eine Stewardess nur: »Die Piloten versuchen, die Maschine in den Griff zu kriegen.« Irgendwann dann hat der Pilot versucht zu sagen, dass alles okay ist, aber seine Stimme war brüchig und es gab offenbar wieder Turbulenzen, denn er sagte panisch zum Copiloten: »O mein Gott, was soll ich denn jetzt nur machen?«, woraufhin der Copilot sagte: »Ich weiß doch auch nicht, das ist mein erster Flug … aber ich glaube, wir können nichts mehr machen … « Und das alles mit angeschaltetem Mikrophon. Die Stewardessen konnten nicht mehr weißer im Gesicht werden, sind irgendwann durch die Gänge gelaufen und haben die Passagiere gebeten, persönliche Abschiedsbriefe und ihre Hinterlassenschaften in die so genannte Blackbox zu legen, damit diese nach dem Absturz der Verwandtschaft zugestellt werden konnten. Alex’ Mutter hat damals innerhalb von dreißig Minuten 12 Kilo abgenommen. Die Maschine konnte zum Glück vor Antigua notwassern.
Da kommt die Stewardess mit dem Essen. Sie ist weiß im Gesicht. Bitte, bitte, lieber Gott,
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