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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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trotzdem.
    »Aber wenn du sie erschreckst, könnte sie dich beißen.« Die Langsamkeit, mit der Großvater spricht, ist beängstigend: Jede Pause, jedes Zaudern bringt sie den Tränen näher.
    »Schlangen sind sehr scheu«, fährt er fort. »Sehr schreckhaft. Man sollte sie in Ruhe lassen.«
    Er ergreift ihre beiden Hände, dreht sie zu sich um und schaut ihr in die Augen. Das gefällt ihr nicht. Es fühlt sich an, als stimme etwas nicht und Großvater könne es nicht in Ordnung bringen.
    »Wenn du eine siehst, geh einfach leise weg. Wirst du daran denken, Marianne?« Sie nickt. Schluckt angestrengt. Aber sie kann die Tränen nicht länger zurückhalten.
    »Du fürchtest dich doch nicht, oder?«, fragt Großvater und streicht ihr mit seiner rauen Hand über die Wangen, um ihre Tränen abzuwischen. Sie schüttelt den Kopf, obwohl sie sich nicht sicher ist. »Das brauchst du nämlich nicht. Scheuch sie nur nicht auf.« Er lächelt. Und sie nickt. Aber tief drinnen hat sie jetzt doch Angst, weil sie spürt, dass Großvater Angst hat.
    »Braves Mädchen. Du musst einfach aufpassen, dass du Schlangen nicht erschreckst. Achte immer darauf, wo du hintrittst. Wenn wir sie nicht stören, lassen sie uns auch in Ruhe.«
    Er hebt sie wieder hoch, und diesmal sind seine Hände weich und sanft. Wie meistens. Sie drückt ihr Gesicht an seinen Hals. Er hält sie im Arm, während er sich auf den Steg setzt, dann lässt er sich in das Dinghi gleiten.
    Und alles ist wieder normal. Sie kann die Sonne auf der Brust ihres Großvaters riechen. Er lächelt, als er sie absetzt und nach den Rudern greift. Aber sie kann immer noch den Schweiß auf seiner Stirn sehen.
    »Lass uns über die Bucht rudern. Und wenn wir wieder zu Hause sind, gibt es Himbeerlikör und Gebäck.« Er lächelt, und die Ruder erzeugen ein leises Plätschern, als er sie ins Wasser taucht.
    Doch auf den Felsen hinter ihnen ist eine Schlange.
    Warum gerade diese Szene? Es war Frühsommer gewesen, und im September darauf war ich vier geworden. Von allen Tagen meiner frühen Kindheit hatte ich mir ausgerechnet diesen gemerkt. Wieso? Ich erinnerte mich deutlich an jede Einzelheit. Aber an nichts, was davor geschehen war.
    Ich erinnerte mich, wie sich Großvaters Hände angefühlt hatten. An die Überraschung über seinen festen Griff unter meinen Armen. Das schnelle Atmen an meinem Ohr. Er war von einem Moment zum nächsten ein anderer geworden. Unwiderruflich. Meine ganze Welt hatte sich verändert. Ganz plötzlich enthielt sie jetzt Dinge, die den einzigen Menschen ängstigen konnten, der mir immer Sicherheit vermittelt hatte. Und seine Angst übertrug sich auf mich.
    Ich suchte nach weiteren frühen Erinnerungen.
    An meine Mutter. Die Suche nach ihr führte mich durch viele Abteilungen meines Gedächtnisses, viele Räume. Sie war schwer fassbar, schien überall und nirgends zu sein, eher ein durchdringender Duft als ein Körper. Sie existierte, doch ich konnte sie nicht lange genug festhalten, um sie klar zu erkennen. Sie kam und ging, verschwand um Ecken. Es war mehr ihre Abwesenheit als ihre Gegenwart, derer ich mich entsann.
    Bis zu jener letzten Szene. Ich wusste, dass ich sie in ihr finden würde, aber ich wünschte mir andere Bilder. Andere Erinnerungen, frühere. Ein zeitlich geordnetes Gefüge. Eine Szene, eine Erinnerung nach der nächsten. In der richtigen Reihenfolge.
    Während ich mein Gedächtnis durchforstete, tauchte eine andere Szene in mir auf. Und ich sah, dass da natürlich eine Verbindung bestand. In ihr war ich fünf, beinahe sechs. Die zwei Jahre zwischen den beiden Szenen hatten anscheinend keine Spuren hinterlassen. Aber vielleicht war diese der Anfang. Der Ursprung all dessen, was folgte. Vielleicht hatte ich sie deshalb so deutlich vor Augen. Vielleicht hatte ich sie gespeichert, weil sie den Beginn darstellte.
    Obwohl ich keine bewusste Kontrolle über meine Erinnerungen hatte, musste irgendein innerer Mechanismus einige von ihnen ausgewählt und bewahrt und andere entsorgt haben, denn zu der Zeit, als die entsprechenden Ereignisse stattfanden, hatte ich ihre Bedeutung unmöglich einschätzen können.
    Die Fünfjährige, die noch nicht ohne Hocker das Fenster erreichte, konnte keine Ahnung haben, was folgen würde. Nicht, dass irgendjemand sonst dazu imstande gewesen wäre, doch im Rückblick war alles klar und deutlich zu sehen. Bis zu jenem Tag hatte ich in einer Welt gelebt, in der mein Aufenthaltsort eine Selbstverständlichkeit war und Zeit

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