Fremde am Meer
jene Nacht redete, fühlte es sich an, als wüchse sie ins Unermessliche, würde jeden Tag größer. Am Ende gab es nur noch sie. Diese Nacht deckte alles zu und machte es unmöglich, außer ihr noch etwas anderes zu sehen, etwas zu spüren. Was Marianne auch sah oder hörte, war durch sie gefiltert. Ihre gesamte Umgebung erschien ihr entrückt und unwichtig. Zunächst hatte sie gehofft, dass jemand die richtigen Fragen stellen würde. Dass sie würde sprechen dürfen. Sie hatte gehofft wie eine Ertrinkende. Dass jemand sie sehen, aus dem Wasser ziehen, verstehen, ihr helfen würde, das Geschehene zu begreifen, wieder atmen zu lernen. Doch keiner fragte. Alle lächelten nur mit schiefgelegtem Kopf. Sie tätschelten sie und versicherten ihr, alles würde gut werden. Doch wie konnte es das? Die einzige Frage, die sie ihr stellten, galt ihrem inneren Befinden. Und das war die falsche Frage. Auf sie gab es keine Antwort.
Schließlich kam ihr der Gedanke, dass sie vielleicht gar nicht Bescheid wissen wollten. Dass das, was sie getan hatte, so abscheulich war, dass es sie zu viel Überwindung kostete, darüber zu reden. Dass das, was sie in sich trug, sie abstieß wie ekelhafter Schleim. Es war verständlich, dass keiner in dessen Nähe kommen wollte. Nein, es war in ihr, nur in ihr, und sie musste es bei sich behalten. Niemand sagte jemals ein Wort über das, was sie vollständig ausfüllte. Damals, als sie noch Marianne war, war es alles, was sie in sich hatte. Tag und Nacht. In ihren Träumen. Ständig. Aber um sie herum herrschte nur Schweigen. Die Leute schauten beiseite. Und wenn sie sie ansahen, lächelten sie, obwohl es keinen Grund zum Lächeln gab. Es gab keine Hoffnung, das wusste sie.
Später, als sie nicht mehr Marianne war, fühlte sie sich, als wäre sie ertrunken und dann leer wiedergeboren worden.
Keiner erklärte ihr jemals, wo Daniel hingekommen war. Alles würde gut werden, sagten sie ihr, doch wie konnte es das, wenn sie keinen Daniel und er keine Marianne mehr hatte?
Jetzt hat sie keine Fragen. Was geschehen wird, ist ihr egal. Sie will nichts wissen.
Sie sieht aus dem Autofenster, erhascht aber nur flüchtige Blicke auf Dächer und Baumkronen zwischen Säulen aus grauem Beton. Ihr ist richtig übel – in ihr ist etwas, das heraus will. Sie kann nur versuchen, es den Rest der Fahrt über zurückzuhalten. Doch irgendwann schläft sie ein.
Als sie aufwacht, trägt Brian sie gerade die Treppe zu einer weißen Villa hinauf.
»Marianne«, sagt er leise. Und sie weiß, dass sie zu Hause angelangt ist. Aber wie Brian ihren Namen ausspricht, klingt er nicht wie Marianne. Er klingt anders und neu, wie Marion. Sie lauscht dem Klang, und er gefällt ihr. Sie macht ihn sich zu eigen und schließt »Marianne« tief in sich ein. Und jetzt geht es ihr besser, als habe man ihr erlaubt, etwas abzustreifen, das schon lange geschmerzt und gescheuert hat. Vielleicht wird sie hier ja irgendwie leben können. Einen Tag nach dem anderen. Auf Englisch, als Marion. Und Marion legt Brian vorsichtig einen Arm um den Hals, während sie die Stufen zu dem großen weißen Gebäude hochgehen.
Erst als sie am späten Abend in einem fremden Bett liegt und unbekannten Geräuschen lauscht, dreht sie sich auf den Bauch, gräbt ihren Kopf in das Kissen und weint endlich.
Um ihren Bruder. Und um sich selbst. Um Marianne.
Eigentlich ging es mir um chronologische Ordnung, doch ich merkte, dass mein Geist sogar im Halbschlaf eine Auswahl traf. Die schwierigsten Szenen übersprang. Als wären sie auch jetzt noch zu schwer zu ertragen.
Der Morgen war hell und klar. Das Licht durchflutete den Raum mit einer Härte, die alles enthüllte.
Ich musste mich dem Tag stellen.
16
Ich wusste, dass er nicht im Haus war. Hatte ich ihn vertrieben? Oder hatte ihn meine Hilflosigkeit zum Weglaufen gezwungen?
Es war kurz nach sechs Uhr morgens. Während ich in der Küche stand und darauf wartete, dass das Wasser im Kessel kochte, schaute ich aus dem Fenster. Es war stürmisch, und zarte Wolken spannten sich über den Himmel wie ein Watteschleier. Das Meer sah in dem frühmorgendlichen Licht grau und unergründlich aus.
Ich nippte an dem heißen Tee und hielt meinen Blick nach draußen gerichtet.
Was sollte ich nur tun?
Ich öffnete die Tür und trat hinaus, um mich auf die Terrasse zu setzen. Hoch über mir kreischten Möwen. Sie glitten lässig durch die Luft, aber ihr Geschrei war schrill, als wollten sie vor einer drohenden Katastrophe
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