Fremde am Meer
begreifen, dass auch er sie liebt, auf seine Art. Es wird eine Weile dauern, wie alles, was aus dem Nichts entsteht. Eines Tages, als er stirbt, wird sie um ihn trauern. Aber hier und jetzt kann sie nicht einmal glauben, dass sie überhaupt jemals wieder etwas empfinden wird.
Doch sie folgt ihm. Dieses neue Mädchen, das nicht mehr Marianne ist, geht neben dem hochgewachsenen Mann her, den es gar nicht kennt. Sie unterhalten sich nicht. Worüber sollten sie auch sprechen, da sie doch zwei Fremde füreinander sind, die von anderen zusammengebracht wurden? Also schweigen sie.
Sie werden nach London fliegen, denn dort lebt er. Sie ist noch nie geflogen und merkt plötzlich, wie sich ihr Magen verkrampft. Wenn ihr nun schlecht wird und sie sich über sich und andere erbricht? Sie kann ihm nichts sagen. Es geht einfach nicht. Zum ersten Mal, seit sie dieses neue Mädchen ist, brennen Tränen in ihren Augen. Aber sie weint nicht.
Doch Fliegen ist nicht wie eine Autofahrt oder eine Schiffsreise. Alles geht gut.
Sie haben sich immer noch nichts zu erzählen. Vielleicht hat sich auch zu viel angestaut, in ihnen beiden. Dinge, die man einem Fremden unmöglich mitteilen kann. Also sitzen sie den ganzen Flug über schweigend da.
KG hat keine Ehefrau, aber er hat Brian, der sie bei ihrer Ankunft am Flughafen erwartet. Brian ist längst nicht so groß wie KG , und zuerst sieht es aus, als hätte er keine Haare. Doch von nahem erkennt sie, dass sie zu einem schwachen Schatten abrasiert sind. Er winkt, als er sie entdeckt, und als sie zu KG aufschaut, stellt sie fest, dass er lächelt. Es ist das erste Mal, dass sie ihn lächeln sieht, was ihn ganz anders wirken lässt. Es ist, als wäre sein Gesicht vorher gefroren gewesen und jetzt aufgetaut. Als er ihren Blick auffängt, wird seine Miene wieder starr. Vielleicht wollte er nicht, dass sie sein Lächeln bemerkt. Also legt sie es sofort ad acta. So etwas kann sie mittlerweile, sich von allem Schwierigen oder Unangenehmen befreien. Es verdrängen.
»Da ist Brian«, sagt KG .
Als sie hinter der Absperrung sind, breitet Brian die Arme aus, als wollte er KG umarmen. Dann sieht es aus, als sei er nicht sicher, was er tun soll, und schließlich legt er KG eine Hand auf die Schulter und die andere sacht auf ihre. Er sagt etwas, das sie nicht versteht. Sie erkennt nur, dass es Englisch ist.
»Brian sagt, er hofft, dass du dich willkommen fühlst. Er hofft, es wird dir gutgehen bei …« Ihr ist nicht klar, warum KG so verlegen wirkt. Dann schaut er Brian an und legt seine Hand auf Brians, die nach wie vor auf KG s Schulter liegt. Er lächelt wieder und erscheint jetzt unbeschwerter.
»Brian und ich hoffen beide, dass du hier glücklich wirst. Bei uns.« Dann legt er ihr für einen Moment die Hand auf den Kopf.
Brian hockt sich vor sie hin und streckt die Hand aus. Er lächelt, aber es ist kein trauriges, sondern ein gutes Lächeln. Also ergreift sie seine Hand. Er zieht sie an sich und hebt sie hoch, obwohl sie fast neun Jahre alt ist. Und sie lässt es zu. Sie umarmt ihn nicht, doch sie sträubt sich auch nicht. Und als sie KG anschaut, stellt sie fest, dass er glücklich aussieht. Erleichtert, so scheint es. Als ob Brian die Situation für KG leichter macht. Sie schaut beide an, und sie kann Brians Parfüm riechen.
An diesem Punkt wird es schwierig. Sie hat Angst, dass sie in Tränen ausbrechen wird, hier im Flughafen, zwischen all den Menschen. Sie kämpft dagegen an, und das ist schwer, aber es fühlt sich richtig an. Es ist richtig, dass es schwer ist. Das ist ihre Strafe. So muss es sein. Einen kurzen Augenblick lang hat sie das vergessen. Sie hat Brians Parfüm gerochen und KG angesehen und einen Anflug von Sehnsucht verspürt. Sehnsucht danach, sich an Brians Brust zu lehnen und ihm die Arme um den Hals zu schlingen. Zu weinen. Aber das darf sie nicht. Es ist nicht erlaubt. Und als sie sich das sagt, versiegen ihre Tränen. Es ist gut, nicht mehr Marianne zu sein, denn so muss sie nichts mehr empfinden. Sie braucht nicht traurig und darf nicht glücklich sein. So ist es einfacher. Und sie kann auch nichts erzählen, denn sie weiß nichts, erinnert sich an nichts. Sie muss also keine Angst haben. Sie wird nicht weinen.
Damals, als sie noch Marianne war und etwas hätte sagen können, hat sie niemand dazu aufgefordert. Nun ist es zu spät. Nun ist sie jemand anders und weiß nichts mehr. Und wenn es richtig schwierig, richtig hart wird, dann ist das ihre Strafe. Und das
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