Fremde am Meer
legte das Telefon auf den Tisch.
»Sie haben morgen früh einen Termin. In Hamilton, in der regionalen Zweigstelle des Jugendamtes. Ich schreibe Ihnen die Adresse auf«, sagte er. »Sie werden sich mit der dortigen Leiterin treffen.«
»Erstaunlich, dass Sie das so kurzfristig arrangieren konnten«, sagte ich. »Und so früh am Morgen – es ist noch nicht einmal sieben.«
Zu meiner größten Überraschung errötete er.
»Na ja«, sagte er und zögerte. Dann räusperte er sich. »Die Leiterin ist eine … eine alte Bekannte.«
»Trotzdem erstaunlich«, entgegnete ich. »Ich bin Ihnen sehr dankbar.«
»Vermutlich wissen Sie, dass es nicht einfach werden wird. Es wird schwierig sein, die Großmutter daran zu hindern, ihn wieder zu sich zu holen, wenn sie das will. Selbst wenn sie das Sorgerecht verliert, wird es ein langes Verfahren mit ungewissem Ausgang.«
»Das ist mir klar«, sagte ich. »Und mir ist auch klar, dass ich von Anfang an anders hätte vorgehen, die Sache offiziell hätte melden müssen. Aber ich wollte ihn einfach keinen einzigen Tag länger bei ihr lassen.«
»Wir machen einen Schritt nach dem anderen«, sagte George und erhob sich. Er holte einen Block und einen Stift und schrieb die Details für das Treffen am nächsten Tag auf.
»Wie gesagt, um Ika brauchen Sie sich erst mal nicht zu sorgen«, fügte er hinzu, als er mir den Zettel gab.
Einen Moment lang standen wir uns schweigend gegenüber.
»Wann will sie kommen?«, fragte er dann.
»Keine Ahnung. Sie hat mir keine Uhrzeit genannt, und ich kann sie nicht erreichen. Die Handynummer, die sie mir gegeben hat, als wir uns kennen lernten, ist nicht mehr in Betrieb.«
»Sagen Sie mir einfach Bescheid, wenn Sie mich brauchen. Ich bin den ganzen Tag hier. Nur ein paar Minuten von Ihnen entfernt.«
»Vielen Dank. Für alles.« Und während ich das sagte, überwältigte mich eine grenzenlose Müdigkeit, als könnte ich mir erst jetzt eingestehen, wie erschöpft ich war. Und ich hielt mir vor Augen, dass er »wir« gesagt hatte. Wir machen einen Schritt nach dem anderen.
Ich streckte die Hand aus und wiederholte mein Danke. George ergriff sie und legte mir die andere Hand auf den Arm.
Damit trennten wir uns.
Wieder daheim, kam mir mein eigenes Haus jetzt noch leerer vor, als wäre es vollkommen verlassen. Und ich sah es klarer als je zuvor, sah, wie schäbig es wirkte. Wie verwohnt und armselig. Angefüllt mit Objekten, die dort lagen oder standen, wo sie zufällig hingeraten waren. Ich konnte mich plötzlich von ihm distanzieren, als hätte es nichts mit mir zu tun. Ich konnte es objektiv betrachten, und mir wurde klar, dass ich mich nie bemüht hatte, mir ein schönes, einladendes Zuhause zu schaffen. Es war nur ein Ort zum Schlafen, der etwas ausgesprochen Trostloses hatte, dem jeder Anflug von Gemütlichkeit fehlte.
Diese Einsicht machte mich seltsam traurig. Wieso hatte ich das nicht früher bemerkt? Ich lebte seit über fünfzehn Jahren hier. Wie kam es, dass ich erst jetzt tatsächlich erkannte, wie es aussah?
Es ist merkwürdig, dass sogar die ungewöhnlichsten Zustände alltäglich werden können. Man lernt zum Beispiel, mit Schmerzen zu leben. Was einem anfangs unerträglich erscheint, wird zur einzigen Realität, die man kennt. Und man stellt sich darauf ein. Man vergisst, wie man sich früher gefühlt hat.
Das hier war kein Heim, sondern eine Zuflucht. Dieses schlichte, entlegene Haus war der Ort geworden, wo ich allmählich gelernt hatte, mit meinem Schmerz umzugehen. Der einzige Ort, wo er zu bewältigen war, weil an ihm keine Erinnerungen hingen. Hier konnte ich sie zulassen. Dieses Haus hatte keine Verbindung mit irgendeinem sonstigen Teil meines Lebens. Und ich hatte nichts mitgebracht.
Mit der Lage verhielt es sich anders. Sie hatte ich genau deshalb gewählt, weil sie so stark mit Erinnerungen besetzt war. Doch das waren spezielle Erinnerungen. Die kostbarsten. Das Haus selbst war neutral. Es forderte nichts und erlaubte mir, meine Erinnerungen in Ruhe zu hegen und zu pflegen. Das war lange Zeit überlebensnotwendig für mich gewesen. Das Haus war mein Schneckenhäuschen. Ein Teil von mir.
Ich wusste nicht mehr, ob ich je Pläne oder Ideen in Bezug auf das Haus gehabt hatte. Ich war einfach nur hineingekrochen, um zu überleben. Ich glaube nicht, dass ich mir anfangs Gedanken darüber gemacht hatte, für wie lange. Ein akutes verzweifeltes Bedürfnis hatte mich angetrieben.
Und die Jahre verstrichen. Vielleicht sah
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