Fremde am Meer
fühlt sich gut an. Es wird sie stärker machen. Alles ist so, wie es sein soll. Sie weiß mit absoluter Sicherheit, dass sie das Allerschrecklichste nie mit jemandem teilen wird. Nicht mit diesen beiden, so nett sie auch sein mögen. Und sie beschließt, eine Zeitlang gar nicht zu reden. Bis sie Englisch sprechen kann. Das wird es leichter machen. Es wird sein wie ein Neuanfang. Ein anderes Leben. Auf Englisch. Zwischen dem, was vorher war, und dem, was jetzt beginnt, wird eine Art Mauer stehen, die nichts durchdringen kann. So wird sie hier leben können. Mit KG und Brian.
Brian fährt. Vom Rücksitz aus sieht sie seinen rasierten Kopf über der Nackenstütze, nicht aber sein Gesicht. Meistens schaut er geradeaus, doch ab und zu zeigt er auf etwas draußen und sagt etwas, das KG ihr auf Schwedisch übersetzt. Sie sagt nichts.
Die Zeit vergeht sehr langsam. Eigentlich gar nicht. Es ist, als säßen sie womöglich bis in alle Ewigkeit hier in dem Wagen. Aber auch das ist eine Form der Strafe, deshalb macht es nichts. Der Rücksitz ist sehr breit, und das weiche Leder riecht merkwürdig. Ihre Beine kleben daran, und ihr ist ein bisschen übel, aber nicht so sehr, dass sie sich erbrechen müsste.
Die Frau in Stockholm hat versucht, ihr zu erklären, wie es sein würde. Doch was wusste sie schon? Und was für eine Rolle spielte es? Die Ärzte wollten wissen, was sie dachte. Dabei hatte sie keine Gedanken, denn sie war tot. Sie war nichts. Sie fragten sie, ob sie Angst habe und sich fürchte. Sie hatten keine Ahnung, diese Ärzte. Wovor sollte sie Angst haben und sich fürchten, wenn das Allerschrecklichste schon passiert war? Sie hatte überhaupt keine Angst. Sie war niemand, empfand nichts, weil alles vorbei war. Mit ihrem freundlichen, traurigen Lächeln saßen sie da und beobachteten sie, die Köpfe ein wenig zur Seite geneigt, als ob sie etwas von ihr erwarteten. Verstanden sie nicht, dass sie ihnen nichts zu geben hatte?
Als sie ihr erklärten, sie würde zu ihrem Onkel nach London ziehen, hatte sie keine Fragen. Es bedeutete nichts. Sie würde tun, was sie wollten; es war unwesentlich. Sie konnten sie überall hinschicken, alles von ihr verlangen. Sie hatte keinen Willen. Sie wünschte sich nichts.
Denn sie hatten ihr Daniel weggenommen.
Das war ihre Strafe, da war sie sicher. Und sie verdiente sie. Was sie getan hatte, war zu grauenhaft, um es je zu erwähnen.
Deshalb hatte ihr auch keiner die richtigen Fragen gestellt. Nicht einmal, als sie sie fanden, Daniel und Marianne.
Frau Andersson als Erste.
Marianne hatte im Bett gelegen, Daniel eng an sich gedrückt. Sie hörte, wie Frau Andersson schrie. Ins Treppenhaus rannte und an die Türen der Nachbarn klopfte. Hörte, wie Türen knallten und Menschen hin und her liefen. Und sie blieb, wo sie war.
Auch später, als Frau Andersson sich hinhockte und zwischen den Gitterstäben hindurchgriff und Mariannes Haar streichelte, grub sie ihren Kopf in Daniels Rücken und weigerte sich aufzublicken. Sie wollte Frau Anderssons Gesichtsausdruck nicht sehen. Sie konnte sie schluchzen hören. Frau Andersson weinte, und das war das traurigste Geräusch, das Marianne je vernommen hatte. Denn Frau Andersson hätte nicht weinen sollen, sie nicht. Es war furchtbar, ihr dabei zuhören zu müssen. Als Daniel sich regte, stand Frau Andersson auf und beugte sich über das Bettchen. Sie streckte die Arme aus und lockerte behutsam Mariannes Griff. Dann hob sie Daniel hoch und verließ das Zimmer mit ihm auf dem Arm.
Es nützte nichts, dass Marianne schrie und schrie. Als Frau Andersson zurückkam, war Daniel nicht mehr bei ihr. Sie hob auch Marianne aus dem Bett und trug sie zu dem Sessel am Fenster. Sie nahm Marianne auf den Schoß und wiegte sie sacht. Dabei sprach sie nicht, sondern summte nur leise. Marianne kuschelte sich an sie, bis sie ganz klein war. Ein sehr kleines Kind. Sie weinte an Frau Anderssons Brust. Und Frau Andersson weinte auch.
Aber das half natürlich nicht. Nichts half.
Später, als sie kamen, um sie abzuholen, all die Menschen mit ihrem traurigen Lächeln, weinte sie nicht mehr. Sie hörte auch auf zu sprechen, weil das Sprechen ebenso wenig half. Sie hatten ihr Daniel weggenommen, und daran war nichts zu ändern. Sie weinte noch einmal, als sie ihr das Nachthemd nahmen, denn es hatte noch ein bisschen von Daniel an sich. Danach hatte sie keine Tränen mehr.
Sie hatte nichts. Es war nichts geblieben. Nicht einmal Marianne selbst.
Und da niemand über
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