Fremde am Meer
warnen.
Ich ging wieder ins Haus. Und dann rief ich George an.
Er nahm sofort ab, und ich stutzte, bevor ich auch nur angefangen hatte zu sprechen. Ich stammelte ein paar unzusammenhängende Sätze, ehe er mich unterbrach.
»Kommen Sie doch rüber, dann ist es einfacher zu reden«, sagte er.
Als ich wenige Minuten später bei seinem Haus ankam, wartete er draußen auf der Treppe. Mir war unterwegs klar geworden, wie früh es war, und als ich jetzt aus dem Auto stieg und auf ihn zutrat, hielt ich Ausschau nach Zeichen des Ärgers darüber, geweckt worden zu sein. Aber ich bemerkte nur, dass sein Haar nass und sein Hemd schief zugeknöpft war. Er lächelte kurz und bedeutete mir hereinzukommen.
Sein Haus war ganz anders, als ich erwartet hatte. Ich musste wohl irgendeine Vorstellung davon gehabt haben, denn es überraschte mich. Es wirkte irgendwie, als passe es nicht in seine Umgebung. Es befremdete mich, und zugleich erschien es mir vertraut. Anheimelnd und irgendwie tröstlich. Als hätte ich eine andere, sicherere Welt betreten.
Ich folgte George in die Küche und setzte mich auf den Stuhl, den er mir heranzog. Ich nahm sein Angebot an, einen Kaffee zu trinken, und beobachtete, wie er ihn zubereitete. Er bewegte sich ohne Eile, selbstbewusst und präzise. Der Kaffee war stark und sehr gut.
Ich suchte nach Worten, um ihm den Grund für mein Kommen zu erklären, aber ich stellte fest, dass ich ihn selbst nicht kannte. Ich wusste nicht, warum ich hier war oder was ich von ihm erwartete.
Schließlich sprach er zuerst.
»Machen wir einen Schritt nach dem anderen«, sagte er. »Er ist also weggelaufen?«
Ich nickte.
»Ja, er hat letzte Nacht gehört, wie seine Großmutter anrief. Und ich weiß, das hat ihn furchtbar aus der Fassung gebracht. Er hat geweint. Ich habe ihn noch nie weinen sehen. Ich habe ihm versprochen, ich würde eine Möglichkeit finden zu verhindern, dass sie ihn zurückholt. Ich habe gesagt, ich würde mir was überlegen.«
Ich schaute ihn an, und zum ersten Mal nahm ich zur Kenntnis, wie er aussah. Bisher war er irgendwie stets abstrakt geblieben. Mein Nachbar eben, nicht zu trennen von dem Wagen, den er fuhr, dem Haus, das er bewohnte, dem Land, das er besaß. Aber hier im trüben Morgenlicht traten die einzelnen Züge seines Gesichts plötzlich klar hervor. Braune Augen mit einem schmalen gelben Rand um die Pupille. Eine lange, gebogene Nase. Eine hohe Stirn mit ausgeprägten horizontalen Falten. Kurze graue Haare, oben schütter. Die Hände auf dem Tisch vor ihm waren groß, sahen jedoch nicht aus wie die eines Farmers. Die Finger waren lang und die Nägel gepflegt, sie schimmerten glänzend auf der dunkleren Haut.
»Aber wenn man seinen eigenen Worten nicht glaubt, klingt man nicht sehr überzeugend, stimmt’s? Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll. Und Lola will ihn heute abholen.«
George schlang seine Hände umeinander und schaute einen Moment lang auf sie hinunter.
»Ich glaube, Sie müssen sich erst einmal keine Sorgen um den Jungen machen«, sagte er langsam.
Als er zu mir aufblickte, lächelte er zwar nicht, aber es fühlte sich so an.
»Sie verstehen, was ich meine, oder?«
Ich nickte. Ika war in Sicherheit. George wusste, wo er war.
»Ich dachte, es reicht, wenn Sie wissen, dass er in Sicherheit ist«, sagte er, und ich nickte erneut. »Wenn Lola heute auftaucht, ist es vielleicht besser, wenn Sie seinen Aufenthaltsort nicht kennen.«
Ich verstand, was er mir klarmachen wollte, und war gerührt von seiner Rücksicht.
»Was wir brauchen, ist eine langfristige Lösung«, fuhr er fort. »Sie müssen wirklich das Jugendamt kontaktieren.«
Wieder nickte ich, denn er sagte nur, was ich bereits wusste. Was ich eigentlich schon die ganze Zeit über gewusst hatte.
»Ich werde versuchen, Ihnen telefonisch einen Termin zu verschaffen.«
Es war noch nicht einmal sieben Uhr, und ich staunte, als er an die Küchentheke trat, wo sich sein Handy auflud. Er griff danach und verließ die Küche, während er eine Nummer wählte. Ich konnte hören, dass er im Nebenzimmer redete, verstand jedoch nicht, was er sagte. Es dauerte eine Weile, und ich schaute mich unterdessen in der Küche um. Keine Junggesellenküche. Sie war gut ausgestattet und behaglich, die Einrichtung nicht neu, aber in hervorragendem Zustand, solide und gepflegt. Der Raum sah bewohnt aus. Abrupt wurde mir klar, wie kahl und verwahrlost meine eigene Küche wirkte.
Dann kehrte George zurück.
Er setzte sich und
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