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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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sich hier gegenüber. Und er tut ihr ein wenig leid. Sie braucht niemanden, dem sie leid tut, und es scheint ihr, dass für ihn dasselbe gilt. Er blickt nicht auf sie, sondern auf die Frau, die lächelt und lächelt. Als würde sie glauben, das könne helfen.
    »Das ist die kleine Marianne«, sagt die Frau.
    »So heiße ich nicht mehr«, sagt sie leise. Und dann noch einmal, ein wenig lauter.
    Die Frau lächelt ein unsicheres Lächeln, sagt jedoch nichts. Sie stehen schweigend da.
    Als sie zu dem Mann aufschaut, sieht sie nichts, was sie erkennt. Er ähnelt niemandem, den sie je gesehen hat. Ihrer Mutter nicht. Und ihrem Großvater auch nicht.
    Aber die Frau behauptet, er sei ihr Onkel. Mutters Bruder. Wenn das stimmt, warum hat sie dann nie von ihm gehört? Nie ein einziges Foto von ihm gesehen? Vielleicht ist alles gelogen, nur damit sie einwilligt in das, was sie beschlossen haben. Damit sie sich besser fühlt. Sie wissen nicht, dass es nichts gibt, wodurch sie sich besser fühlen könnte.
    In diesem Moment schaut er zu ihr herab und legt ihr zum ersten Mal die Hand auf den Kopf. Ganz leicht und ohne ein Wort. Und irgendwie versteht sie, dass dies alles ist, was er tun kann. Und es genügt. Es wird genügen müssen.
    Sein Name ist Karl-Göran, doch es wird lange dauern, bis sie das herausfindet. Alle nennen ihn KG . Die Frau sagt Herr Gustafsson zu ihm. Es fühlt sich merkwürdig an, hier vor Mutters Bruder zu stehen. Wo ist er die ganzen Jahre über gewesen? Sie kann sich nicht erinnern, dass Großvater ihn je erwähnt hätte. Oder Mutter. Bis auf das eine Mal nach Daniels Geburt. Als Mutter mit Daniel in den Armen aus der Klinik nach Hause kam.
    Mutter trat in die Küche und setzte sich auf einen Stuhl. Sie sah zu Marianne auf, die in der Tür stand, und winkte sie zu sich. Dann schlug sie die Decke zurück, und beide schauten auf das kleine Gesicht darin.
    Aber daran mag sie jetzt nicht denken. Davon will sie nichts wissen. Sie weiß nicht mehr, wie sie sich angefühlt hat, die Wärme, die sie damals vollkommen ausfüllte. Es ist, als hätte sie sie nie empfunden, nie ihre Hand ausgestreckt und gespürt, wie die kleinen Finger nach ihr griffen. Sie ist nie wieder so glücklich gewesen, dass ihr fast die Tränen kamen. Sie weiß nicht mehr, wie es war, so glücklich zu sein und dann zu Mutter aufzuschauen und zu sehen, dass sie weinte. Nicht vor Freude, sondern ernsthaft. Und dann zu hören, wie Mutter zum Sprechen ansetzt. Sie weiß nicht mehr, wie schwer es ist, so glücklich und zugleich so traurig zu sein. Sie weiß gar nichts.
    »Das ist dein Bruder Daniel, Marianne«, sagte Mutter. Eigentlich klingt das nicht traurig, oder? Aber als Mutter es sagte, klang es so traurig, dass es jedes Glücksempfinden erstickte.
    »Denk immer daran, dass du einen Bruder hast. Und hilf mir, auf ihn aufzupassen.«
    Die Person, die sie jetzt ist, würde nie verstehen, wie es sich anfühlte, als Mutter Mariannes Hand nahm und sie auf Daniels kleine Brust legte. Wie sich sein rascher Herzschlag anfühlte.
    »Hab ihn lieb, wenn du kannst, Marianne. Und bleib bei ihm. Behalte ihn in deiner Nähe. Ich habe es nicht getan, und ich glaube, alles wäre anders gelaufen, wenn ich es getan hätte. Aber ich habe zugelassen, dass mein Bruder aus meinem Leben verschwand. Als meine Mutter ging und ihn mitnahm, habe ich ihn gehen lassen. Und am Ende hatte ich niemanden.«
    Das war alles. Sie erwähnte ihren Bruder nie wieder. Und Marianne fragte nie. Das ist vielleicht schwer zu begreifen, doch Momente wie diesen gab es nicht mehr. Marianne gönnte ihm keinen weiteren Gedanken. Sie wusste nicht einmal, wie er hieß. Oder wo er war. Ob er noch lebte. Sie speicherte die Aussage einfach dort, wo es schon eine Vielzahl weiterer unverständlicher Informationen gab, die sie nie wieder abrief. Ihre Mutter hatte einen Bruder. Irgendwie war er verschwunden.
    Die alte Marianne hatte nur Zeit für ihren eigenen Bruder.
    Aber hier ist er, ihr Onkel, direkt vor ihr. Sie kann nichts dagegen tun. Er ist nicht zu übersehen.
    Und sie soll mit ihm gehen.
    Er bückt sich nicht, um sie zu umarmen oder auch nur ihre Hand zu nehmen. Das ist eine Erleichterung. Ebenso wenig lächelt er. Und auch das ist gut, denn es gibt mit Sicherheit nichts, worüber man lächeln könnte. Er legt ihr die Hand ein zweites Mal leicht auf den Kopf, das ist alles.
    Dann machen sie sich auf den Weg.
    Sie kann nicht wissen, dass sie lernen wird, diesen Mann zu lieben. Und zu

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