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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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glaube ich.«
    Die Kellnerin erschien mit unserem Essen, und Claire wartete, bis sie wieder gegangen war.
    »Lidia starb bei einem Verkehrsunfall. Es war einer dieser Unfälle, die hier leider viel zu häufig sind. Ein schwerer Lastwagen, der die Mittellinie überfuhr. Sie hatte keine Chance. Die Leute sagen, dass George sich danach ein Jahr lang nirgendwo blicken ließ. Und er hat nie mehr etwas gepflanzt.«
    Wir saßen eine Weile schweigend da.
    »Lidia war schwanger mit ihrem ersten Kind und freute sich sehr darauf. Ich lernte sie kennen, als wir denselben Malkurs besuchten. Ihr Englisch war zuerst nicht sehr gut. Wir freundeten uns an und begannen, uns hin und wieder zu treffen. Manchmal tranken wir nach dem Unterricht einen Kaffee zusammen. Sie war sehr talentiert, auf einem ganz anderen Niveau als wir übrigen. Ich weiß gar nicht, warum sie überhaupt an dem Kurs teilnahm. Vielleicht, um ein bisschen herauszukommen. Ihr Haus war so abgelegen, und Lidia war sehr lebhaft und kontaktfreudig. Aus irgendeinem Grund hatte ich den Eindruck, dass sie diejenige war, die Geld hatte. Nicht, dass wir je darüber gesprochen hätten. Komisch eigentlich, wie viel man zu wissen meint, obwohl man gar nicht sagen könnte, woher. Aber es war eine große Farm, also haben die Einheimischen wohl darüber geredet.«
    Sie schaute mich an und schien zu zögern, ehe sie fortfuhr.
    »Viele Jahre später hatten wir einen Fall, bei dem es um ein Kind ging, das nur Deutsch sprach. Es war eine tragische Situation, und wir brauchten einen Dolmetscher. Jemand schlug vor, George anzurufen. Er half gern, und man konnte sehen, dass er sehr gut mit dem Kind zurechtkam. Zum Dank lud ich ihn zum Essen ein. Ich war nicht sicher, ob er sich an mich erinnerte – wir hatten uns nur ein paar Mal kurz getroffen, wenn er Lidia abgesetzt oder abgeholt hatte. Ich glaube, alle wussten, wer er war, aber er hat vermutlich nicht viele Leute gekannt.«
    »Ja, das kommt mir bekannt vor«, sagte ich und lächelte. »Jetzt bin ich diejenige, über die anscheinend jeder alles weiß.«
    »Na ja, und da habe ich ihn spontan gefragt, ob er Interesse hätte, sich als Bereitschaftspflegevater zur Verfügung zu stellen«, fuhr sie fort. »Er meinte, er werde es sich überlegen und mir Bescheid sagen.«
    Wieder drehte sie ihre Kaffeetasse und schaute sie an.
    »Als er anrief und zustimmte, schlug ich ein weiteres Mittagessen vor. Um ihm noch mehr Informationen zu geben. Na ja, das war eigentlich gar nicht meine Aufgabe … ich habe das wohl nur als Vorwand benutzt. Ich wollte ihn wiedersehen. Also trafen wir uns ein paar Mal zum Mittagessen. Und zum Abendessen. Und zum Spazierengehen. Vermutlich hoffte ich, es würde sich etwas daraus entwickeln. Aber die Zeit verging, und es passierte nichts. Wir trafen uns immer seltener und dann gar nicht mehr. Es war wohl doch kein möglicher Anfang gewesen.«
    Ich sah, dass sie wieder errötete, und wusste nicht, was ich sagen sollte.
    »Ich dachte nur, dass Sie sich vielleicht fragen, woher wir uns kennen.« Sie nahm ihr Glas und trank einen Schluck Wasser. Dann setzte sie es ab und holte tief Luft. Und damit war sie wieder die Alte, ganz professionell.
    »Ich übergebe den Fall einem unserer Mitarbeiter. Natürlich werde ich seine Dringlichkeit betonen. Aber diese Fälle sind immer dringlich. Sie können damit rechnen, dass Sie morgen von uns hören.«
    Als wir uns draußen auf der Straße voneinander verabschiedeten, schüttelte sie mir die Hand, hielt sie fest und schaute mich offen an.
    »Sie sollten wissen, dass George immer noch offiziell Bereitschaftspflegevater ist.«
    Dann ließ sie meine Hand los.
    »Es war nett, Sie kennen zu lernen«, sagte sie.
    »Vielen Dank«, sagte ich. »Danke, für alles.«
    Sie nickte und lächelte.
    Nachdem ich Raglan durchquert hatte, verlangsamte ich mein Tempo und bog auf die schmale Straße ab, die sich hoch über dem Meer dahinschlängelt. Ich fand eine Stelle, wo ich neben der Fahrbahn parken konnte, und setzte mich auf einen Grasflecken mit Blick auf den Ozean. Von hier aus sah das Meer ganz anders aus als das, mit dem ich zu Hause an meinem Strand lebte. Blendend mit seinem türkisblauen Funkeln, so intensiv, dass der leuchtend blaue Himmel dagegen blass war. Obwohl ich wusste, dass tief unten die Wellen ans Ufer krachten, hörte ich hier oben nichts. Die See wirkte verlockend friedlich, wie eine blaugrün glitzernde Ewigkeit. Die Flachsbüschel auf dem Hang zu meinen Füßen raschelten

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