Fremde am Meer
in der leichten Brise.
Wie sollte ich Ika erklären, was ich selbst nicht verstand? Wie konnte ich ihn trösten, wenn ich selbst keinen Trost fand?
Im Laufe der Zeit schienen wir eine Art instinktiven Rapport entwickelt zu haben, der jedoch nur funktionierte, wenn wir beide allein waren – zu Hause, im Auto. Wir kommunizierten, ohne viel zu reden. Selten bekam ich mehr als ein Nicken oder Kopfschütteln von ihm. Und noch seltener ein Lächeln. Aber umso bedeutungsschwerer waren seine spärlichen Äußerungen und Gesten geworden. Es gab Momente, wenn wir Musik hörten oder an unserem Projekt arbeiteten, in denen ein perfekter wortloser Kommunikationsfluss zwischen uns zu bestehen schien.
Ika zu erklären, was vor uns lag, würde schwierig werden. Wenn er bei George bleiben durfte, würde es vielleicht einfacher. Aber sicher wollte er wissen, wie die langfristige Lösung aussehen würde. Und das mit Recht. Was also sollte ich sagen? Was ich ihm vermitteln konnte, waren nur meine eigenen Ängste. Ich hatte das Gefühl, wir seien beide gleich ungeschützt und verletzlich. Bauern in einem Schachspiel, das wir nicht selbst spielten und nicht beeinflussen konnten.
Mir war schon öfter der Gedanke gekommen, dass unsere Beziehung für mich mindestens so wichtig war wie für Ika. Vielleicht wichtiger. War es am Ende meine eigene Situation, die mir Sorgen machte, und nicht seine?
»Alles wird gut.«
Das sagt man, wenn man nicht sicher ist, wie eine Sache ausgeht. Um sich selbst zu beruhigen, ebenso sehr wie die anderen. Oder wenn man weiß, dass in Wahrheit nichts je wieder gut wird.
Um sich selbst zu trösten, ebenso sehr wie andere.
Es ist das Geräusch, das sie weckt. Nicht, weil es so laut, sondern weil es ungewöhnlich ist. Ohne die Augen zu öffnen, bleibt sie reglos liegen und lauscht. Ihre Nase ist in Daniels Haar vergraben, und sie kann seinen Babyschweiß riechen. Zuerst bezweifelt sie, dass das Geräusch real war. Vielleicht hat sie es geträumt. Vielleicht kommt es nicht wieder.
Dann folgt ein schwerer Schlag, als ob etwas gegen die Wand kracht. In der Stille danach hört sie leise Stimmen. Sie versteht die Worte nicht, aber sie spürt sie. Irgendwie ist das noch schlimmer. Denn obwohl sie zu wissen glaubt, was sie sagen, könnte sie sich irren. Es könnte etwas noch Schlimmeres sein … das Schlimmste, was sie sich vorstellen kann.
Dann ein lauteres Krachen und das Geräusch von etwas, das zu Boden fällt. Umkippt. Und dann eine Stimme. Diesmal ist sie als Mutters Stimme zu erkennen, aber seltsam verändert. Sie versteht nicht, was Mutter sagt, es ist nur ein Geräusch, wie von einem Tier, ohne Worte. Zuerst laut, dann verklingt es langsam. Jetzt hört es sich gar nicht mehr nach Mutter an. Es ist ein grauenhaftes Geräusch, und sie mag es nicht hören. Doch auch als es aufhört, ist es, als hinge es nach wie vor in der Luft, sehr schwach, aber noch vorhanden.
Daniel wacht nicht auf, und sie liegt ganz still da, um ihn nicht zu stören. Sein warmer Körper ist an ihren geschmiegt, doch sie friert trotzdem. Ihr Mund ist trocken, und sie muss auf die Toilette. Aber sie bleibt, wo sie ist, mit geschlossenen Augen, die Arme um ihren kleinen Bruder geschlungen.
Das Geräusch verschwindet nicht. Sie kann es nicht hören, doch sie weiß, dass es noch da ist. Und sie wird ihm nachgehen müssen. Sie steigt aus dem Bettchen und stellt ihre kalten Füße auf den Boden. Ihr Nachthemd ist feucht; jetzt, da sie nicht mehr neben Daniel liegt, ist ihr noch kälter. Sie bibbert und verschränkt die Arme über ihrer Brust. Sie steht still und mit gespitzten Ohren da. Dann tritt sie hinaus in den Flur. Ab und zu bleibt sie stehen. Horcht. Aber da ist kein Laut.
Die Tür zum Schlafzimmer ist angelehnt. Sie berührt sie nicht. Sie beugt sich nur vor und späht hinein. Ihre Zähne klappern. Sie erblickt eine Ecke des Bettes, ein kleines Stück Fußboden. Das Licht ist an, doch es sieht irgendwie seltsam aus, als beleuchte es nur den Boden. Der Teppich ist ein halb unter das Bett geschobener Haufen. Und da ist Mutters Arm, ausgestreckt auf dem Fußboden mit offener Hand. Hans kann sie nicht sehen, aber sie hört ihn schnarchen. Das ist alles, was das Geräusch in ihrem Kopf übertönt. Es klingt, als befände sich ihr Herz in ihrem Kopf. Es pocht und schlägt lauter und lauter, und es fühlt sich an, als ob ihr Schädel gleich explodiert.
Sie geht den Flur entlang in die Küche. Dort zieht sie unter dem Tisch einen Stuhl
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