Fremde am Meer
zur Familie fördern wir in jedem Fall. Sicher verstehen Sie, dass der ganze Vorgang nicht überstürzt werden darf. Er braucht Zeit.«
»Wie viel?«, erkundigte ich mich, obwohl ich wusste, dass die Frage sinnlos war.
»Das kann ich Ihnen unmöglich beantworten. Nach dem, was Sie mir erzählt haben, klingt es ja so, als wäre die Großmutter fürs Erste nicht erreichbar. Ich weiß nicht, wie lange es dauert, sie aufzuspüren. Oberflächlich betrachtet, sieht es aus, als hätte sie das Kind im Stich gelassen. Wir haben oft Probleme, Angehörige zu lokalisieren, besonders wenn sie nicht im selben Ort leben. Wenn das geschafft ist, setzen wir eine Besprechung mit allen Betroffenen an in der Hoffnung, zu einer einstimmigen Entscheidung zu gelangen. Wenn der Sorgeberechtigte allerdings nicht kooperiert, kann es so schwierig werden, dass man es manchmal vor Gericht ausfechten muss.«
»Und Ika muss die ganze Zeit über bei Fremden wohnen?«
»Ich versichere Ihnen, dass die von uns ausgewählten Familien im Umgang mit schwer traumatisierten Kindern Erfahrung haben.«
»Aber dieser Junge ist nicht nur traumatisiert«, sagte ich. »Meiner Ansicht nach ist er leicht behindert. Wahrscheinlich eine milde Form von Autismus. Jedenfalls hat er ernsthafte Probleme, sich auszudrücken und mit anderen Menschen zurechtzukommen. Er hat sich gerade erst daran gewöhnt, bei mir zu leben, und ist jetzt schon viel besser in der Schule. Das wird seine Lehrerin sicherlich bestätigen.«
Sie nickte.
»Wir werden natürlich alle Aspekte berücksichtigen. Aber in Notfällen greifen wir ausschließlich auf als solche anerkannte Pflegefamilien zurück.«
Mein Herz hämmerte, und ich wusste, dass ich meiner Stimme nicht trauen konnte, also erwiderte ich nichts.
»Wie ich bereits sagte, wir müssen uns an die Vorschriften halten. Diese Angelegenheiten sind sehr heikel, und es ist wichtig sicherzustellen, dass wir die richtige Entscheidung fällen.«
Sie schaute auf ihre Armbanduhr.
»Es ist Zeit zum Mittagessen, und ich habe um halb zwei Uhr eine Sitzung. Hätten Sie Lust, unser Gespräch beim Essen abzuschließen? Ganz in der Nähe ist ein nettes Café.«
Ich zögerte, denn ich war müde und musste mich sammeln. Und ich hatte das Gefühl, fürs Erste so weit gegangen zu sein, wie ich konnte. Es gab für mich nichts mehr zu sagen.
»Ich werde Sie nicht zu lange beanspruchen, Und ich würde mich über Ihre Gesellschaft freuen«, sagte sie und stand auf.
Ich folgte ihr durch das Großraumbüro, die Mittagspause war offensichtlich – viele Stühle waren leer.
Das Café war nur ein, zwei Blocks entfernt.
»Wie lange kennen Sie George schon?«, fragte sie, als wir uns gesetzt und unsere Bestellungen aufgegeben hatten.
»Na ja, in gewisser Weise, seit ich vor fünfzehn Jahren hierher gezogen bin. Aber andererseits kenne ich ihn überhaupt nicht. Wir sind Nachbarn, doch bis vor kurzem hatten wir nie engeren Kontakt. Ich habe mich in meiner Verzweiflung an ihn gewandt, als ich nicht wusste, wie ich Verbindung mit Ikas Familie aufnehmen sollte, nachdem ich ihn aus dem Meer gerettet hatte. Und seit damals ist George, glaube ich, auch ein wichtiger Mensch in Ikas Leben geworden. Es war George, zu dem er flüchtete, als er hörte, dass seine Großmutter unterwegs war. Sie ist dann doch nicht gekommen, aber sie könnte jederzeit auftauchen, deshalb ist Ika nach wie vor bei George. Um Ihre Frage korrekt zu beantworten, müsste ich demnach wohl sagen, dass ich George überhaupt nicht kenne. Ich weiß kaum etwas über ihn. Er war freundlich und hilfsbereit, das ist alles.«
Sie hatte nach einer Serviette gegriffen und faltete sie jetzt geistesabwesend. Dann sah sie mich an.
»Sie wissen also nicht, was kurz nach seiner Ankunft hier passiert ist?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Na ja, sehr viel weiß ich auch nicht. Man kennt einen Menschen ja nicht schon deswegen, weil man weiß, was ihm widerfahren ist. Ich habe mit George selbst nie darüber geredet. Jedenfalls ist er vor ungefähr fünfundzwanzig Jahren mit seiner Frau Lidia hierhergekommen. Sie waren jung und frisch verheiratet, und ich glaube, sie träumten davon, Überbevölkerung und schlechter Luft zu entfliehen. Ein neues Leben zu beginnen. Aber sie können natürlich auch ganz andere Gründe gehabt haben. Auf jeden Fall kauften sie die Farm, auf der George heute noch lebt. Ich glaube, sie wollten Pflanzen anbauen, und sie fingen mit Oliven an. Sie hatten auch Tiere damals. Rinder,
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