Fremde am Meer
gebettet zu sein, und trotzdem stieß ich auf keinen Park und keine Grünfläche, und ich war erleichtert, als es Zeit wurde, zu meinem Treffen zu gehen.
Die Frau, die mich empfing, schätzte ich auf irgendwo zwischen vierzig und fünfzig. Sie hatte kurze dunkle Haare, war ungeschminkt und trug ein schlichtes braunes Kleid mit einer grünen Strickjacke. Sie begrüßte mich, und wir nahmen Platz, sie hinter ihrem Schreibtisch und ich ihr gegenüber. Milchglasscheiben trennten ihren Bereich von dem Großraumbüro um uns herum. Er war einfach möbliert und ordentlich und passte gut zu der Frau. Der einzige etwas überraschende Gegenstand war ein wunderschönes großes Gemälde von einer Meerlandschaft an der Wand hinter ihr.
Sie stellte sich als Claire Peters vor und eröffnete das Gespräch damit, dass sie sagte, sie sei eigentlich nicht die Richtige für mein Anliegen. Wenn das Jugendamt tatsächlich einschreiten würde, wäre sie nicht direkt zuständig.
»Aber George Brendel ist ein guter Freund und hat mich um ein informelles Treffen mit Ihnen gebeten«, sagte sie. Zu meiner Verwunderung errötete sie ebenso wie George, und die Röte breitete sich über ihr ganzes blasses Gesicht und ihre Kehle aus.
»Vielleicht geben Sie mir zuerst einmal ein paar Hintergrundinformationen«, fuhr sie fort.
Ich zog die Mappe mit meinem Bericht und den Fotos hervor und legte sie auf den Tisch.
Dann begann ich, ihr meine Geschichte zu erzählen.
Als ich fertig war, rieb sie sich mit den Fingern über die Stirn, als wollte sie ihre Gedanken ordnen.
»Sie wissen vermutlich, dass in solchen Situationen gesetzlich festgelegte Vorgehensweisen einzuhalten sind. Ausnahmen gibt es nicht. Die Tatsache, dass ich George kenne und er Sie kennt, ändert daran natürlich nichts. Und da Sie in diesem Fall Partei sind, darf ich Ihnen keine Informationen geben, die wir möglicherweise über die Familie haben.«
Sie hielt kurz inne.
»Vielleicht wäre es hilfreich, wenn ich Ihnen ganz allgemein beschreibe, wie wir Überprüfungen dieser Art durchführen? Oder vielleicht ist Ihnen das schon bekannt?«
»Na ja, man sollte meinen, das wäre es, wenn man bedenkt, dass ich Ärztin bin, nicht wahr? Und in gewissem Sinne trifft das auch zu. Mir ist klar, dass ich die Sache von Anfang an falsch angepackt habe. Ich habe mich von meinen Gefühlen überwältigen lassen. Also wäre es wohl ganz gut für mich zu erfahren, wie ich damit hätte umgehen sollen.«
Sie lächelte kurz, dann fixierte sie mich einen Moment lang, sodass ich den Eindruck hatte, sie wollte mir etwas Bestimmtes vermitteln. Aber das war vielleicht nur Einbildung.
»Glauben Sie mir, ich kann mich gut in Sie hineinversetzen, aber in emotional aufgeladenen Situationen macht es sich oft bezahlt, leidenschaftslos zu bleiben und sich an die vorgeschriebenen Verfahren zu halten, statt impulsiv zu handeln. Andererseits kommt es natürlich vor, dass impulsives Eingreifen über Leben und Tod entscheidet.«
Wieder schien es, als wollte sie mir mit den Augen eine Botschaft übermitteln, die sie aus irgendeinem Grund auf andere Weise nicht äußern konnte. Ich wusste nicht genau, wie ich dies deuten sollte.
»Wir haben den angeborenen Instinkt, die Schwachen zu beschützen, und der drängt uns zum Handeln, wenn ein Leben in Gefahr ist. Ohne ihn wären wir keine Menschen. Sie sind Ärztin, aber in erster Linie sind Sie ein menschliches Wesen.«
Sie hielt inne und sah mich wieder an.
»Ich darf Ihnen nichts über die Familie sagen, aber ich kann Ihnen versichern, dass das, was Sie getan haben, so vorschriftswidrig es auch war, dem Jungen womöglich das Leben gerettet hat. Das wird bei der Überprüfung des Falls und bei den Entscheidungen, die zu treffen sind, mit in Betracht gezogen werden.«
Ich war plötzlich sehr müde. Es war, als ob die Spannung, die mich angetrieben hatte, allmählich nachließ.
»Wir werden natürlich sein Zuhause überprüfen lassen und uns unser eigenes Bild von der Situation machen. Wenn es uns notwendig erscheint, das Kind sofort herauszuholen, greifen wir auf anerkannte Pflegefamilien zurück, bei denen er einstweilen leben würde. Wenn später entschieden wird, dass eine langfristige Alternative nötig ist, würden wir versuchen, einen Angehörigen zu finden, der bereit ist, für ihn zu sorgen. Familiäre Beziehungen aufrechtzuerhalten ist eine Priorität für uns. Natürlich ist es nicht immer möglich, das Kind bei Angehörigen unterzubringen, aber Kontakte
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