Fremde am Meer
hervor und trägt ihn zur Arbeitsfläche. Sie steigt auf den Stuhl und von da aus auf den kalten Marmor der Theke, wo sie sich hinkniet und die Hand nach einem der Messer in dem Ständer an der Wand ausstreckt. Sie packt es und hält es gut fest, während sie wieder hinunterklettert. Sie legt das Messer auf die Theke und glättet ihr Nachthemd, das ganz verrutscht ist. Dann schiebt sie den Stuhl zurück an den Tisch. Einen Moment lang steht sie da und schaut das Messer an. Sie kann nicht nachdenken. In ihrem Kopf hämmert es, und ihre Finger sind so kalt, dass sie nicht weiß, wie sie sich jemals um den Griff des Messers biegen sollen, aber als sie es dann nimmt, umschließt ihre Hand es fest, und sie kehrt zum Schlafzimmer zurück.
Mit einem leichten Schubs öffnet sie die Tür so weit, dass sie eintreten kann.
Das merkwürdige Licht kommt von einer der Nachttischlampen, die zu Boden gefallen ist und sie direkt anstrahlt, sodass sie zuerst geblendet ist. Sie kneift die Augen zusammen, und der Raum nimmt langsam Gestalt an. Mutter ist am nächsten. Ihre eine Hand liegt neben Mariannes Fuß. Mutter liegt auf dem Rücken, hat beide Arme weit ausgebreitet. Ihr Morgenmantel steht offen, und sie ist nackt darunter. Ihr Kopf ist zur Seite gedreht, als ob sie schläft.
Hans liegt auf dem Bett. Sein Hemd ist neben dem Bett zu Boden gefallen, doch seine schwarze Hose hat er noch an. Und seine schwarzen Schuhe. Er liegt auf dem Bauch, und eine Hand hängt über der Bettkante, und sein Gesicht ist von ihr abgewandt. Sein Rücken sieht in dem seltsamen Licht, das ihn von unten bescheint, sehr weiß aus.
Sie lässt sich zu Boden sinken, neben Mutter, und als sie sich vorbeugt, kann sie Mutter atmen hören. Doch es klingt nicht wie sonst. Es klingt, als ob etwas in ihrer Kehle steckt – wie eine Art Gurgeln. Mit jedem Atemzug quillt roter Schaum aus ihrem Mund. Er sieht blutig aus. Auf dem Boden unter Mutters Kopf ist eine Lache aus dunklerem Blut.
Marianne legt das Messer neben sich und versucht, Mutters Morgenmantel zu schließen, aber ihre kalten Hände sind steif und unbeholfen. Sie weint nicht, doch ihre Kehle schmerzt, als sitze das Weinen darin fest.
Dann bewegt sich Hans auf dem Bett. Er stöhnt und zappelt ein bisschen, aber das ist alles.
Marianne erhebt sich schwerfällig und dreht sich zu ihm um.
Nur der erste Stich ist langsam.
Das Messer gräbt sich in die Seite von Hans’ Hals und scheint dafür sehr lange zu brauchen. Und es kommt so viel Blut, das überall hinfließt. Über das ganze Bett. Hans drischt mit den Armen um sich und versucht mehrmals, sich aufzurichten, doch jedes Mal sackt er wieder nach hinten. Sie rammt das Messer in ihn, wieder und wieder. Irgendwann rutscht Hans halb zu Boden. Sie muss schnell einen Schritt zurücktreten. Sie gleitet aus und fällt hin und landet nahe bei Mutter; sie spürt Mutters Körper neben sich.
Sie hört jemanden schluchzen, doch sie weiß nicht, wen.
Sie bleibt neben Mutter auf dem Fußboden liegen. Ihre Brust schmerzt, als hätte sich etwas in ihr verklemmt. Es tut weh zu atmen, und so holt sie immer nur ganz kurz und flach Luft. Die ganze Zeit über hält sie die Augen geschlossen.
Sie fühlt, wie Mutter sich regt. Sie macht die Augen auf und schaut sie an, sieht, wie sie langsam nach Mariannes Hand greift, die zwischen ihnen liegt, und ihr sanft das Messer entwindet. Dann lässt sie ihre Hand wieder fallen. Jetzt umklammert Mutter das Messer.
Als sie in Mutters Gesicht blickt, scheint es ihr fast, als versuchte sie zu nicken. Aber dann ist da nichts mehr, gar nichts. Alles ist sehr still, nur der rote Schaum tröpfelt zwischen Mutters Lippen hindurch auf ihre Wange.
Marianne erhebt sich, erst auf alle viere, dann steht sie auf. Sie geht langsam auf die Tür zu, und als sie sich umdreht, sieht sie hinter sich die roten Abdrücke ihrer Füße.
Sie zittert, und es gibt nichts, was sie dagegen tun kann. Sie ist nass und weiß, dass sie sich bepinkelt hat. Trotzdem marschiert sie schnurstracks ins Kinderzimmer und steigt in das Bettchen. Daniel schläft, doch er wimmert ein bisschen, als sie sich hinter ihn legt.
Sie schiebt ihre Hand unter seine Pyjamajacke und streicht mit den Fingern über die Narbe unter seinem Arm, während sie gleichzeitig ihre Nase in seinen Nacken gräbt.
Irgendwann schläft sie ein.
19
Nur zögernd stand ich auf und ging zurück zum Wagen. Ich fuhr langsam, noch langsamer als sonst, kurbelte das Fenster herunter und ließ die
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