Fremde am Meer
Brise herein. Das Meer war Hintergrund für alles, eine ständige Präsenz tief unten zu meiner Rechten.
Ich war mit sehr gemischten Gefühlen nach Hamilton aufgebrochen. Jetzt auf dem Heimweg empfand ich anders. Die Zukunft kannte ich nach wie vor nicht, aber ich merkte, dass ich mich selbst und mein Handeln endlich klarer sehen konnte.
Ich hatte zugelassen, dass Ikas Leben und seine Bedürfnisse sich unauslöschlich mit meinen eigenen verflochten. Womöglich war ich sogar nicht mehr in der Lage, zwischen beiden zu unterscheiden. Wenn ich ihn anschaute, hatte ich eigentlich mich selbst gesehen. Ich hatte es als gegeben vorausgesetzt, dass ich ihn verstand und wusste, was das Beste für ihn war. Was hatte George gesagt? Manchmal ist es nicht gut, sich von seinen Gefühlen leiten zu lassen. Vielleicht besonders dann nicht, wenn es unsere tiefsten, unbewussten Gefühle sind. Ich hatte Ika gefunden und geglaubt, in ihm mich selbst gefunden zu haben. Und trotz des Wunsches, für ihn zu sorgen, hatte ich seine wahren Bedürfnisse womöglich ignoriert. Starke Emotionen erzeugen oft eine Art von Arroganz: Meine Leidenschaften dürfen nicht in Frage gestellt werden. Ich fühle, also weiß ich. Meine ganze Bildung, all meine Erfahrungen als Erwachsene waren nur ein dünner Schorf über der blutenden Wunde meines Kinderherzens.
Ich versuchte, mich selbst zu beschwichtigen. Mir einzureden, dass die Angelegenheit jetzt in guten Händen sei. Dennoch war mein Widerstand gewaltig, Er wollte einfach nicht ganz weichen.
»Vertrau mir, vertrau uns, alles wird gut.«
Ein nagender Zweifel blieb.
Bei meinem Haus angelangt, sah ich, dass dahinter Georges Wagen parkte, und als ich um die Ecke bog, fand ich ihn auf der Terrasse vor, wo er unruhig hin und her lief. Als er mich entdeckte, kam er mir entgegengerannt.
»Ika ist verschwunden!«, sagte er. »Er hatte vor, hier auf Sie zu warten, aber als ich nach ihm sehen wollte, war er nicht mehr da. Es sieht so aus, als ob hinter dem Haus Reifenspuren im Sand sind. Vielleicht ist Lola doch noch gekommen.«
Ich starrte ihn an. Das schwache Gefühl der Erleichterung und Hoffnung, das mich erfüllt hatte, löste sich sofort in nichts auf.
»Wir waren angeln, haben aber nichts gefangen, und dann wurde uns langweilig. Auf dem Rückweg sagte er, er wolle hierbleiben und auf Sie warten. Ich hätte auch bleiben sollen, aber er schien etwas dagegen zu haben, und ich dachte, es könnte nichts schaden, ihn allein zu lassen.«
George schaute erst aufs Meer und dann zu Boden.
»Ich habe gleich beim Jugendamt angerufen, aber die können im Moment nicht viel tun. Und bei Ihnen habe ich nur die Mailbox erreicht.«
Ich zog mein Handy aus der Tasche. Es war ausgeschaltet.
»Ich bin die ganze Zeit am Strand auf und ab gelaufen, habe seinen Namen gerufen und ihn gesucht. Aber ich kann ihn nicht finden. Ich habe noch nicht mal irgendwo Fußabdrücke gesehen.«
Seine Stimme brach, und er schien den Tränen nahe.
War Ika wirklich zum Strand hinuntergerannt? Der Strand war endlos. Fußabdrücke konnten in Sekunden verwischt werden. Und das Meer verschlang alles, was ihm im Weg war.
Ein verängstigtes Kind konnte spurlos verschwinden.
Ich öffnete die Tür und trat ins Haus. Es sah genauso aus, wie ich es verlassen hatte. Es gab keine Anzeichen von Gewalt. Ich ging ins Wohnzimmer und bemerkte, dass der Klavierdeckel aufgeklappt war. War er das bei meiner Abfahrt auch gewesen? Das glaubte ich nicht. Der Vorhang vor Ikas Zimmer war zugezogen. Ich schob ihn beiseite und spähte hinein. Das Bett wirkte unberührt – hier war keine Spur von ihm, nichts.
Ich weinte nicht, hörte mich jedoch leise wimmern, während ich nachzudenken versuchte. Wahrscheinlich hatte George Recht, und Lola war tatsächlich gekommen und hatte ihn abgeholt. Aber irgendwie konnte ich das nicht glauben. Ika war sehr geräuschempfindlich. Er hätte erkannt, dass es Lolas Wagen war und nicht meiner, und wäre weggelaufen.
Oder war das schon wieder eine Projektion? Konnte ich mir wirklich so sicher sein, dass ich wusste, was er getan hätte? Vielleicht war er, gelähmt von Furcht, hier am Klavier sitzen geblieben? Andererseits konnten George und ich beide total falsch liegen. Vielleicht war Ika einfach zu einer seiner kleinen Wanderungen aufgebrochen.
George stand in der Tür.
»Es tut mir so leid«, sagte er. »Das ist alles meine Schuld. Ich hätte die ganze Zeit über bei ihm bleiben müssen.«
»Nein, nein«, sagte ich. »Sie
Weitere Kostenlose Bücher