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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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Löffel weglegte. Ika nickte, und das war ein großes Kompliment für mich. Ich räumte das Geschirr ab. Was ich als Nachtisch zu bieten hatte, waren nur einige Pfirsiche und ein kleines Stück Käse, und ich legte alles auf einen Teller und trug ihn nach draußen.
    Irgendwann ging Ika hinüber zur Hängematte und kletterte hinein. George deckte ihn zu.
    Wir blieben den ganzen Abend über am Tisch sitzen. Als die Musik verklungen war, lauschten wir dem unsichtbaren Meer hinter dem Haus.
    Dann sagte George: »Ich weiß nicht, ob Claire erwähnt hat, dass ich offiziell als Pflegevater auf Zeit anerkannt bin. Ungewöhnlich, nehme ich an, weil ich allein lebe. Aber ich habe im Lauf der Zeit einige Notfallbetreuungen übernommen. Oft für nicht englischsprachige Kinder. Meine eigene Muttersprache ist Deutsch, aber ich spreche auch andere Sprachen. So hat es angefangen. Sie brauchten jemanden, der Deutsch spricht.«
    Ich nickte.
    »Wenn Sie einverstanden sind, würde ich mich dem Jugendamt für die Zeit des Verfahrens als Ikas Pflegevater zur Verfügung stellen. Das wäre kein Opfer für mich – ich habe ihn ins Herz geschlossen. Und er scheint mich zu akzeptieren. Es ist nicht gesagt, dass sie einwilligen. Vielleicht gibt es Pflegefamilien, die sie geeigneter finden. Aber anbieten kann ich es. Wenn es Ihnen recht ist.«
    »Das klingt doch ideal«, sagte ich. »Eine bessere Lösung könnte ich mir nicht vorstellen.«
    »Dann also abgemacht.« George stand auf, trat langsam an das Terrassengeländer und schaute in die Dunkelheit.
    »Sie haben ein wunderschönes Haus«, sagte er, den Rücken zu mir gewandt.
    Unwillkürlich musste ich lächeln.
    »Ich?«, fragte ich ungläubig nach.
    »Ja. Es wirkt lebendig. Es ist ein bisschen unordentlich …«
    Er drehte sich um und sah mich an.
    »Entschuldigung.«
    Ich lachte wieder. »Sie haben ja Recht!«, sagte ich.
    »Klar, es ist unordentlich. Und es ist nicht im besten Zustand. Aber es ist lebendig. Mein Haus ist ein Mausoleum.«
    Ich war für einen Moment sprachlos.
    »Mein Zuhause ist zusammen mit meiner Frau gestorben«, sagte er leise. »Seitdem lebt da nichts mehr. Ich putze es und pflege es, wie man ein Grab pflegt. Mit Liebe und Trauer. Aber Leben ist dort nicht eingezogen. Eher im Gegenteil. Es ist Lidias Zuhause, nicht meins.«
    »Komisch«, sagte ich nach einer Weile, »genauso sehe ich mein Haus auch. Als Denkmal für das, was ich verloren habe. Für mich ist hier nichts lebendig. Zumindest war es das nicht, ehe Ika einzog. Es war nur eine Zuflucht. Ich habe erst kürzlich darüber nachgedacht, wie sehr ich mein Zuhause vernachlässigt beziehungsweise mir hier eigentlich nie eins geschaffen habe. Ich finde Ihres sehr wohnlich.«
    George wandte sich wieder um und lehnte sich an das Geländer.
    »Von außen sieht es immer anders aus. Man kann sich total irren, weil man die Dinge immer durch die eigene Brille sieht. Dasselbe Haus kann eine Zuflucht oder ein Gefängnis sein, je nach Betrachter.«
    Er ging hinüber zur Hängematte und schaute auf den schlafenden Ika.
    »Ich glaube, es wird Zeit, dass wir uns verabschieden und auf den Heimweg machen«, sagte er.
    Wir hoben Ika gemeinsam hoch und wickelten ihn in die Decke. Dann nahm George ihn in die Arme. Ich sah die beiden an und verspürte für den Bruchteil einer Sekunde einen Anflug von Neid. Als ob ich mir wünschte, dass George mich im Arm halten und irgendwohin forttragen würde, wo es warm und sicher war.
    Wir standen uns gegenüber, und George blickte mich mit nachdenklicher Miene an. Aber in dem flackernden Licht war es schwer zu erraten, was er dachte. Und ich hoffte, dass es auch ihm unmöglich war, meine Gedanken zu lesen.
    Ich drehte mich um und ging mit einer Taschenlampe voran und um das Haus herum. Ich öffnete die hintere Tür von Georges Wagen, und er legte Ika behutsam auf den Rücksitz.
    »Danke, Marion, das war ein wunderbarer Abschluss eines bewegten Tages«, sagte er.
    »Ich danke Ihnen «, entgegnete ich. »Vielen Dank für alles.«
    Das Schweigen danach schien sich auszubreiten und uns festzuhalten, wo wir standen, einander zugewandt in dem hellen Flecken, den das Licht der Taschenlampe im Sand zu unseren Füßen zeichnete.
    George berührte sanft meinen Arm, dann drehte er sich abrupt um und sprang ins Auto.
    »Bis morgen«, sagte er durch das heruntergekurbelte Fenster.
    Ich stand da und sah zu, wie er abfuhr, bis seine Rücklichter nur noch zwei rote Nadelstiche in der kompakten Finsternis

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