Fremde am Meer
waren.
Dann machte ich die Taschenlampe aus und wartete, bis meine Augen sich an das Dunkel gewöhnt hatten.
Ich ging an meinem Haus vorbei hinunter an den Strand und setzte mich in den kühlen Sand.
Hier bemerkte ich, dass die Dunkelheit nicht absolut war. Von der Terrasse aus war das Meer eins gewesen mit der es umgebenden Finsternis. Jetzt aber konnte ich eine Vielzahl von Grautönen unterscheiden, so mannigfaltig wie die farbenprächtigste Landschaft.
Sie übernachten nicht in dem Motel in Kawhia. Bei ihrer Ankunft ist es weit nach Mitternacht. Der Ort scheint zu schlafen, und die Restaurants sind geschlossen.
Stattdessen fahren sie zu einem Campingplatz am Wasser und schaffen es, für den Geländewagen einen Stellplatz für die Nacht und für Marions Auto einen für drei Tage zu ergattern.
Michael öffnet die Hecktür seines Jeeps, springt hoch, setzt sich und lässt seine Beine über den Rand baumeln. Dann zieht er sie zu sich nach oben. Sie sitzen Seite an Seite und essen gebackene Bohnen aus der Dose und geschmolzene Erdnussriegel als Nachtisch. Es ist still und warm.
»Ist es Ihnen recht, hier zu schlafen?«, fragt er und deutet auf die Fläche, auf der sie sitzen. »Tut mir leid, aber ich glaube, das ist am einfachsten. Ich mache das oft, wenn es schon spät ist und ich es zu umständlich finde, das Zelt aufzubauen. Wenn Sie wollen, schlafe ich gern vorne, dann haben Sie den Platz hier ganz für sich.«
Er lächelt und beginnt, hinter ihnen aufzuräumen. Dann springt er zu Boden, geht zu einer der offenen Seitentüren und klappt die Lehne der Rückbank nach vorn, wodurch der Schlafplatz fast doppelt so groß wird. Er entrollt eine Matte, die ihn jedoch nicht mal halb bedeckt.
»Tut mir leid, sehr bequem ist das wohl nicht«, sagt er. »Kramen Sie ruhig nach Sachen, mit denen Sie die Fläche ein bisschen auspolstern können.«
Als sie fertig sind, haben sie einen geräumigen Schlafplatz geschaffen, der recht einladend aussieht. Sie setzen sich auf das Bettzeug, trinken lauwarmen Wodka und rauchen.
»Ich weiß gar nicht, was ich Sie fragen soll«, sagt er.
»Na ja, Sie haben mich gefragt, ob ich auf diesen Ausflug mitkomme. Das genügt doch, finde ich. Alles andere können Sie durch Beobachtung herausfinden …«
»Aber stellt man sich nicht ganz elementare Fragen, wenn man sich gerade erst kennen gelernt hat? Schließlich könnten Sie ja auch eine Serienmörderin sein. Ich weiß nichts über Sie, obwohl ich Sie eingeladen habe, mein Bett mit mir zu teilen.«
Sie lacht, wieder überrascht von der Leichtigkeit, mit der ihr das gelingt.
»Na ja, was sollte das ändern? Wenn ich eine Serienmörderin bin, werde ich Ihnen das wohl kaum verraten, oder? Und wenn Sie mich fragen, wie alt ich bin, werde ich definitiv lügen«, sagt sie.
»Wie alt sind Sie?«, fragt er.
Sie zögert ein wenig, ehe sie antwortet.
»Sechsunddreißig«, erwidert sie.
»Sehen Sie, das war doch nicht gelogen.«
Sie schüttelt den Kopf.
»Nein.«
»Und sind Sie eine Serienmörderin?«
»Nein«, sagt sie und lacht wieder. Es ist außergewöhnlich, wie sie von ihr Besitz nimmt, diese seltsam leichte Heiterkeit.
Er lehnt sich zurück und stützt sich auf die Ellbogen.
»Erzählen Sie mir, was Sie lieben«, sagt er.
Darauf weiß sie nichts zu sagen. Er schaut sie aufmerksam an, als wäre ihm ihre Antwort wichtig. Er ist jetzt ernst, scherzt und lächelt nicht mehr. Irgendetwas beißt sie in die Beine, und sie zieht sie hoch und unter sich.
»Sandfliegen«, bemerkt er, als sie sich an den Knöcheln kratzt, und greift in seinen Rucksack. »Hier, nehmen Sie das«, sagt er und wirft ihr eine Flasche Insektenschutzmittel zu.
»Ich habe die Frage nicht vergessen«, sagt sie, während sie sich Füße und Beine einreibt. »Ich weiß bloß keine Antwort darauf. Erzählen Sie mir, was Sie lieben.«
Er legt sich zurück auf das Kissen, das sie aus Kleidungsstücken fabriziert haben, seine Hände hinter dem Kopf verschränkt.
»Lieben ist ja wohl etwas ganz anderes als Mögen, oder? Eine völlig andere Dimension. Meiner Ansicht nach ist Liebe ein mentaler Zustand der Übersteigerung, in dem sich alles … na ja, intensiviert. Er unterscheidet sich von allen anderen Zuständen. Es ist, als ob man alles aus einer ganz neuen Perspektive betrachtet. Die Liebe packt einen, und man kann nichts dagegen tun. Sie ist wie eine Infektion, finde ich. Und wenn man davon betroffen ist, färbt sie auf alles ab. Und in manchen Fällen ist sie
Weitere Kostenlose Bücher