Fremde am Meer
nicht lange dauern. Dann steigt er in den Wagen und fährt ab.
Das Gefühl der Verlassenheit ist schrecklich. Wie kann das sein? Sie ist sechsunddreißig und daran gewöhnt, allein zu leben. Die Zeit, die sie für sich hat, effizient zu nutzen. Und hier hockt sie nun und weiß nicht, was sie tun soll, außer zu warten. Sie ist hilflos einem Zustand ausgeliefert, den sie nicht kontrollieren kann, den sie nicht begreift. Der sie zu vollkommen unsinnigem Verhalten veranlasst.
Es ist sein Geburtstag, und sie hat kein Geschenk für ihn. Sie setzt sich neben den Eingang zum Zelt, schlingt die Arme um ihre Knie und denkt nach. Dann kriecht sie hinein, holt ihren Rucksack heraus, öffnet ihn und kramt darin herum, bis sie findet, was sie gesucht hat. Die CD , die sie in Singapur gekauft hat. Bill Evans. Sie hat das Cover wiedererkannt, als sie es in einem Geschäft entdeckte, und an Brian gedacht. Es handelte sich um eine alte Aufnahme, eine von Brians Lieblingsplatten und dann auch eine von ihren. Vielleicht war es aber auch das Drumherum, die ganze Situation, nicht nur die Musik, die sie so liebgewonnen hatte. Auf Brians Schoß zu sitzen, den sanften Klängen zu lauschen, ohne zu reden, Abend für Abend in jener frühen gemeinsamen Zeit. Ihr spezielles Stück war »Peace Piece« gewesen, das drittletzte. Sie hatten es so oft gespielt, dass die Platte ganz verkratzt war. Später hatte diese Musik sie am Leben erhalten, und mit ihr hatte sie langsam, langsam begonnen, wieder richtig zu leben.
Sie ist das passende Geschenk.
Sie nimmt sein kleines Taschenmesser und macht sich auf den Weg, um Neuseelandflachs zu schneiden. In Auckland hat sie kleine Körbe gesehen, die aus den hohen, spitzen Phormium-Blättern geflochten waren. Sie wachsen überall, und sie findet schnell, was sie braucht. Der Himmel ist hoch und klar und vollkommen leer. Keine Pfuhlschnepfen heute. Vielleicht sind sie abgezogen. Aber sie stößt auf ein paar kleine Federn und hebt sie auf. Sie weiß nicht, ob es Pfuhlschnepfenfedern sind, doch sie stellt es sich gern vor. Genau wie gestern wird ihr Spaziergang länger als geplant. Es ist, als ob diese Landschaft sie ganz aufsaugt, sie Zeit und Ort, sich selbst vergessen lässt.
Als sie schließlich zurück ist, setzt sie sich auf die Erde und macht sich ans Werk. Es ist schwieriger, als sie gedacht hat. Die Blätter sind scharf und steif. Sie spleißt sie in schmale Streifen und reibt sie, damit sie ein bisschen weicher werden und leichter zu verarbeiten sind. Dann legt sie sie vor sich hin und beginnt, sie zu flechten. Sie hat ein Mäppchen für die CD vor Augen gehabt, und das Ergebnis ist gar nicht schlecht. Sie schiebt die CD hinein und verschließt es mit einer der Federn. Sie ist gerade fertig, als sie den Jeep hört, und steckt das Geschenk in ihren Rucksack.
Vor dem Abendessen gehen sie wieder hinunter zum Meer.
Diesmal springt er als Erster ins Wasser, und sie sitzt mit der Kamera oberhalb auf dem Hang. Sie kommt nahe an ihn heran, näher denn je. Doch sie macht keine Bilder, betrachtet ihn nur. Und wieder verspürt sie den Drang, ihm mit den Händen über die Haut zu streichen. Sie legt die Kamera beiseite, zieht sich aus und gesellt sich zu ihm.
Als sie zurück sind, zündet er den Grill an. Dann geht er zum Wagen und kommt mit einem in Plastik gewickelten Paket wieder. Grinsend präsentiert er es wie eine Trophäe.
»Miesmuscheln, Herzmuscheln, zwei schöne Snapperfilets. Und ein paar Austern«, sagt er, während er auspackt. »Die Austern essen wir als Vorspeise, und als Hauptgang mache ich dann eine echte Geburtstagspaella. Ist dir das recht?«
Sie lacht und nickt.
»Das ist mir sehr recht.«
»Schade, dass kein Champagner da ist, aber wir haben die hier!«, sagt er und holt zwei Flaschen Rotwein hervor.
»Der beste Pinot noir, den das Land zu bieten hat.«
Er öffnet eine Flasche und füllt zwei Gläser. Sie weiß nicht, wo die Gläser herkommen, doch sie sind schön und sehr dünn.
Er hebt sein Glas, und sie prosten sich zu. Er streckt seine leere Hand aus und zieht sie an sich. Sie vergießt etwas Wein, der ihr über die Hand läuft. Er beugt sich vor und leckt ihn auf. Dann küsst er sie, und sie kann den Wein auf seiner Zunge schmecken.
Es ist fast dunkel, als die Paella fertig ist. Sie essen so langsam, dass die Zeit stillzustehen scheint.
Hinterher geht sie sein Geburtstagsgeschenk holen. Er hat eine Sturmlampe angezündet, deren Licht einen kleinen Kreis um sie beide
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