Fremde am Meer
und ihre Blicke scheinen sich auf dieselben Punkte zu konzentrieren. Nur nicht, wenn es auf sie gerichtet ist, natürlich. Aber auch daran gewöhnt sie sich. Allmählich glaubt sie, sie könne sich mit seinen Augen sehen. Die Kamera wird ein entscheidender Teil ihrer Kommunikation. Er erlaubt ihr, sie auch zu benutzen, doch es genügt ihr immer öfter, ihr bloß mit den Blicken zu folgen, dann sieht sie dasselbe wie die Kamera. Sie ist nicht ein einziges Mal in Versuchung, ihren eigenen Fotoapparat hervorzuholen.
Nach dem Abendessen sitzen sie vor dem Zelt, während hinter den Hügeln, die am Horizont eine schwarze Kette bilden, langsam ein voller Mond aufgeht. Er taucht im Osten auf, sehr groß und von einem satten Orangegelb. Michael zieht sie an sich, und sie setzt sich zwischen seine Beine und legt ihren Kopf an seine Brust. Er schlingt die Arme um sie und fragt sie, ob ihr kalt sei. Wie könnte es das? Sie glaubt nicht, dass sie je wieder frieren wird.
Später, als der Mond hoch am Himmel steht und in einem klaren weißen Licht erstrahlt, kriechen sie ins Zelt.
Am nächsten Morgen ist er nicht da, als sie aufwacht. Aber sie hört, wie er sich draußen bewegt. Den Grill anzündet. Sie lauscht mit jedem Teil ihres Körpers. Sie ist noch nie so hellwach gewesen. So lebendig. Irgendwann, als sie Kaffee riecht, befreit sie sich aus dem Schlafsack und geht zu ihm hinaus. Er sitzt am Grill, seine Knie umfassend, den Blick aufs Meer gerichtet. Es muss über Nacht geregnet haben, obwohl sie nichts davon gemerkt hat. Das Gras ist nass, und in den Mulden am unteren Rand der Zeltplane haben sich kleine Wasserlachen gebildet. Jetzt jedoch ist klares Wetter, keine Wolke an dem frisch gewaschenen Himmel, über den wieder anmutig der Schleier aus Pfuhlschnepfen wogt. Als sie sich neben ihn hockt, zeigt er darauf.
»Ob sie wohl proben? Sich auf die lange Reise vorbereiten?«, sagt er.
Sie trinken Kaffee, dann brechen sie auf zu einem Spaziergang hinunter ans Meer. Der Weg ist länger, als sie gedacht hat, aber das stört sie nicht. Sie läuft hinter ihm, betrachtet seinen Körper, während er sich mit müheloser Leichtigkeit bewegt. Sie verfällt in dasselbe Tempo, folgt unbeschwert seinen Schritten.
Als sie das Ufer erreicht haben, bleiben sie stehen. Sie schauen aufs Wasser hinunter, und die Dünung ist majestätisch, überwältigend.
»Wir finden schon eine gute Stelle zum Reinspringen«, sagt er und blickt suchend um sich. »Da drüben.« Er deutet auf eine Gruppe schwarzer, mit scharfen Muschelschalen bedeckter Felsen, die eine kleine Lagune umschließen. Außen brechen die Wellen sich ungestüm an den Steinen und erfüllen die Luft mit salziger Gischt, aber in dem Becken ist es ruhig und geschützt.
»Geh«, sagt er und nickt in Richtung Wasser. »Ich dirigiere dich von hier aus.«
Und sie tut es. Diese neue Frau entkleidet sich, klettert nach unten und gleitet in das kühle Nass. Sie sinkt tief hinein und taucht atemlos wieder auf. Sie hält sich an einem Felsen fest und schüttelt sich das Wasser aus den Haaren, sodass sie von einem Sprühregen umhüllt ist.
Als sie aufschaut, hat er die Kamera auf sie gerichtet. Sie stößt sich vom Felsen ab und lässt sich treiben. Lächelnd.
In meinem dunklen Schlafzimmer war ich wieder dort. Ich leckte mir die Lippen und war überrascht, als sie nicht nach Salz schmeckten. Plötzlich merkte ich, dass ich mich an diesen einzelnen Moment erinnern und ihn genießen konnte. Dieser eine schimmernde Augenblick gehörte mir.
Ich hatte akzeptiert, dass ich all die düsteren Erinnerungen in mir trug. Aber mir war nicht klar gewesen, dass die schönen ebenfalls Teil von mir waren. Ich hatte ein Recht auf sie. Und das Recht, mich an ihnen zu erfreuen, was auch davor und danach passiert sein mochte. Ich hatte ein Recht auf mein Glück ebenso wie auf meine Trauer.
Ich streckte die Hand aus und knipste die Nachttischlampe an.
22
Ich schlief unruhig und wachte früh auf. In der dunkelsten Stunde der späten Nacht, in der der Tod nahe und das Leben gefährdet scheint und die in der chinesischen Medizin Leberstunde heißt, hatte ich wach gelegen.
Ich hatte an Ika gedacht und versucht, mich selbst objektiv zu betrachten. Hatte ich ihn benutzt? War er nur ein Mittel gewesen, mit dem ich meiner Seele Frieden schenken, mich mit mir selbst aussöhnen wollte? Konnte ich meine Gefühle für Ika von meiner Vergangenheit trennen? Ihn sehen, wie er war, seine wahren Bedürfnisse, nicht meine
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