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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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anders. Kein anderes Leben, bloß anders. Lidia ist bei einem Verkehrsunfall gestorben. Und ich bin hiergeblieben.«
    »Wieso?«, fragte ich und bereute es sofort.
    Er saß mit den Händen zwischen den Knien da und schaute zu Boden.
    »Wo sollte ich denn hin?«, sagte er und hob den Blick.
    Ich nickte. Es gab keine Antwort auf diese Frage, und sie hing eine Weile zwischen uns in der Luft.
    Dann stand George auf und trat an den Flügel.
    »Ich habe ihn gerade stimmen lassen, aber er wird nie wieder ein richtig gutes Instrument sein. Es ist ein bisschen wie mit Menschen – man darf sie nicht zu lange sich selbst überlassen. Sonst verändern sie sich unwiderruflich.«
    Er entfernte das Porträt und klappte den Deckel auf. Dann drehte er sich um und bedeutete Ika, er solle sich auf den Hocker setzen, während er selbst zum Sofa zurückkehrte.
    Was Ika spielte, schienen kleine Improvisationen zu sein. Er wirkte ziemlich vertieft in die Musik, und ein Stück folgte nahtlos auf das andere. Ich lehnte mich in die Kissen und lauschte. George servierte Kaffee. Dann ging er noch einmal in die Küche und kam mit einer Flasche und zwei Gläsern wieder.
    »Calvados«, sagte er und hielt die Flasche hoch. »Möchten Sie welchen?«
    Ich wusste eigentlich gar nicht, was das war, doch in diesem Stadium hätte ich alles akzeptiert, nur um den Abend noch ein wenig zu verlängern. Also nickte ich, und George goss ein.
    Wir saßen in behaglichem Schweigen da und lauschten der Musik, bis Ika sich plötzlich erhob.
    »Müde?«, fragte ich.
    Er nickte, drehte sich um und verschwand.
    Nach einer Weile kehrte er zurück und stellte sich in die Tür, in sicherem Abstand zu uns. Er trug einen Pyjama, und mir fiel auf, dass er neu war. Ika winkte uns zu und wandte sich um, und wir sagten seinem Rücken Gute Nacht.
    »Zuerst bin ich mit ihm in die Laube gegangen«, sagte George, »aber ich habe schnell gemerkt, dass er lieber allein ist. Er nimmt seine Taschenlampe und verschwindet nach draußen, wenn er genug von mir hat.«
    Er trat ans Fenster und bedeutete mir, ihm zu folgen.
    Wir sahen zu, wie Ika über den Rasen lief, eine kleine, dunkle Gestalt hinter dem Strahl einer Taschenlampe. Wir warteten, bis er in seinem Häuschen verschwunden war und schwaches Licht durch dessen Fenster schien.
    Wir setzten uns wieder aufs Sofa.
    »Noch ein Schlückchen?«, fragte George, und als ich nickte, schenkte er uns beiden ein bisschen Calvados nach.
    Natürlich sprachen wir über Ika. George rechnete damit, am nächsten Tag vom Jugendamt zu hören. Er schien viel hoffnungsvoller zu sein als ich. Vielleicht wusste er mehr als ich. Außerdem war seine Beziehung zu Ika anders als meine. Eigentlich kannte ich diesen Mann überhaupt nicht. Ich hatte keine Ahnung, was in ihm vorging. Er hatte mir erklärt, er habe Ika liebgewonnen, doch was bedeutete das? Wie ernsthaft und langfristig war sein Engagement?
    Wir schwiegen einen Moment lang, und ich hatte den Verdacht, er habe vielleicht meine Gedanken gelesen, und fühlte mich zum ersten Mal ein wenig unwohl.
    Aber ich lag vollkommen falsch.
    »Ich habe zufällig die Zeitschrift in Ihrem Schlafzimmer gesehen«, sagte er plötzlich. »Das sind doch Sie, oder? Auf dem Titelblatt?«
    Ich schaute ihn an, und das Schweigen dauerte eine Ewigkeit.
    Dann nickte ich.
    »Ich fand einfach, dass es ein wunderschönes Foto ist. Ich wollte nicht spionieren.«
    Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen, und hoffte, sie würden ihm nicht auffallen.
    »Ja, es ist ein sehr schönes Foto«, sagte ich und trank einen Schluck aus meinem Glas. Der Alkohol brannte auf meiner Zunge und machte meine Tränen hoffentlich plausibel.
    Und dann war das Schweigen nicht mehr peinlich. Ich merkte, dass George nichts weiter erwartete. Er lehnte sich in die Kissen zurück und musterte den Inhalt seines Glases.
    »Zeit zu gehen, glaube ich«, sagte ich.
    »Ich fahre Sie nach Hause.«
    »Ich laufe lieber zu Fuß«, sagte ich.
    »Wenn Sie Gesellschaft mögen, begleite ich Sie gern.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Ich muss einen klaren Kopf bekommen, und der Spaziergang wird mir guttun«, sagte ich.
    Wir verabschiedeten uns auf der Veranda, umarmten einander leicht und ließen zu, dass unsere Wangen sich berührten. Dann drehte ich mich um und trat in die dunkle Nacht. Als ich ein wenig später über die Schulter zurückschaute, war er immer noch da, eine schwarze Silhouette in der Tür.
    Sie sieht sich wie aus großer Entfernung. Ihr Körper

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