Fremde am Meer
ist noch da, genau wie vor einem Moment, mit ihren Händen auf seinem Rücken und ihrer an seine Haut gepressten Wange. Alles ist, wie es vor einer Minute war.
Und doch wird nichts wieder sein wie zuvor. Wenn diese Nacht vorbei ist, ist da nichts mehr. Absolut nichts. Nie wieder.
Sie kann sich nicht vorstellen, wie sie es schaffen soll. Aber sie muss gehen. Schritt für Schritt, auf das Nichts zu.
Ihre Fingerspitzen streichen sacht über die Narbe. Obwohl ihre Augen geschlossen sind, kann sie sie sehen. Sie gräbt ihre Nase in seine Haare und atmet den Duft ein. Lässt zu, dass er mit der Erinnerung verschmilzt, der sie so lange ausgewichen ist.
Wie ist es möglich, dass sie die Zeichen nicht erkannt hat? Auf irgendeiner Ebene müssen sie sie doch erreicht haben. Sein Geburtstag – hätte sie nicht Bescheid wissen müssen, als sie das Datum hörte? Als sie seinen nackten Rücken sah, auf dem die kleinen Schweißperlen glitzerten? War ihr Blick nicht über die dünne Linie gewandert, die sich in seine linke Achselhöhle zog? Hatte sie sich schlichtweg geweigert, sie wahrzunehmen? Einfach nicht an sich halten können?
Das ist es, was sie jetzt denkt, während sie über ihnen beiden schwebt.
Sie weint nicht. Sie liegt ganz still da, um ihn nicht zu wecken, die ganze Nacht, neben ihm, die Arme um ihn geschlungen. Sie schließt die Augen und denkt, so könnte es jetzt zu Ende gehen, genau so. Alles könnte langsam verblassen, bis sie nicht mehr zu sehen sind.
Sie beide zusammen.
Aber der Morgen kommt unerbittlich. Das Licht dringt durch die rote Zeltplane und ergießt sich über alles darunter wie dünnes Blut. Als sie bemerkt, dass er aufwacht, wendet sie sich ab und macht die Augen zu. Sie hört, wie er sich leise bewegt und irgendwann ins Freie kriecht, um sie nicht zu stören. Sobald er draußen ist, dreht sie sich wieder um und legt sich auf die warme Stelle, die sein Körper hinterlassen hat.
Dort bleibt sie, bis keine Wärme mehr da ist.
Dann streckt sie die Hand aus, öffnet seinen Rucksack und zieht vorsichtig seinen Pass heraus.
Mikael Daniel Frohman.
Geboren am 12. Februar 1966.
In der Gemeinde Engelbrekt, Stockholm, Schweden.
Sie verstaut seinen Pass wieder.
Von oben, wo sie schwebt, sieht sie sich selbst dort liegen. Sie fragt sich, wie sie es jemals schaffen soll aufzustehen. Wie sie diesen Tag überleben soll. Und alle darauf folgenden Tage.
Sie liegt still, bis sie keine Gedanken mehr hat, nur noch eine lähmende, unerträgliche Trauer verspürt.
Irgendwann steckt er seinen Kopf durch die Öffnung.
»Müde?«
Sie nickt.
»Ja, und Kopfschmerzen. Vielleicht zu viel Wein gestern Abend«, sagt sie. Sie lauscht ihrer eigenen Stimme und wundert sich, dass sie normal klingt.
»Gib mir ein paar Minuten, dann komme ich.«
Und sie schafft es tatsächlich. Sie setzt sich auf. Fährt sich mit den Fingern durch die Haare. Benetzt ihre Fingerspitzen mit Speichel und wischt sich die Augen. Kriecht ins Freie.
Ein Schritt nach dem anderen, denkt sie. Ich werde einen Schritt nach dem anderen machen.
Sie trinken ihren Kaffee, und er fragt sie, ob sie gern noch einmal schwimmen gehen würde.
Sie schaut in den Himmel, der vollkommen klar ist, am Horizont jedoch einen grauen Streifen aufweist, als ziehe ein Tief heran.
»Lass uns lieber zusammenpacken.« Sie zeigt gen Himmel. »Es sieht nach Regen aus.«
Als alles im Wagen verstaut ist, packt er ihren Arm und zieht sie an sich.
»Was ist los?«
»Ich bin nur ein bisschen traurig«, sagt sie.
»Aber das ist doch erst der Anfang«, sagt er. »Ich muss heute nach Auckland, aber ich versuche, meinen Rückflug zu verschieben, damit wir dort noch Zeit für uns haben. Und Pläne machen können. Entscheiden, wo und wann und wie wir uns wiedersehen. Ich rufe dich an, sobald ich in Auckland bin.«
Sie nickt und lächelt und versteht gar nicht, wie ihr das möglich ist. Wo kommt es her, dieses dünne kleine Lächeln?
Dann küsst er sie.
Bevor sie sich von ihm löst, nimmt sie sein Gesicht in beide Hände. Und küsst ihn noch einmal.
Als sie nach Kawhia zurückfahren, fühlt es sich an, als ob sich die Landschaft hinter ihnen allmählich auflöst. Sie ist sicher, dass nichts davon bleibt.
Plötzlich bremst er und zeigt durch die Windschutzscheibe.
Hoch oben am blassen Himmel zieht die Formation der Pfuhlschnepfen anmutig dahin. Sie findet, dass sie heute zielstrebiger wirken. Sie scheinen sich nicht mehr hin und her treiben zu lassen, sondern bewegen
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