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Fremde am Meer

Fremde am Meer

Titel: Fremde am Meer Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: L Olsson
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beschreibt und den Rest der Welt in völliger Dunkelheit belässt.
    Vorsichtig öffnet er das Mäppchen und zieht die CD heraus.
    »Für dich wird diese Musik nichts Besonderes sein«, sagt sie, »aber ich verbinde eine Menge Erinnerungen damit. Schöne Erinnerungen. Ich dachte, sie könnte dir vielleicht auch gefallen und dir eines Tages etwas bedeuten.«
    Er schaut sie an, und im Schein der Lampe wirken seine Augen fast schwarz.
    »Das tut sie jetzt schon«, sagt er. »Und wenn wir wieder zurück sind in der Zivilisation, können wir sie uns zusammen anhören. Du kannst deine Erinnerungen mit mir teilen, und zugleich schaffen wir uns unsere eigenen.«
    Sie haben vor dem Zelt eine Decke ausgebreitet und liegen dicht nebeneinander; ihr Kopf ruht auf seiner Brust. Der Mond geht auf, verschleiert, wie hinter Gaze. Der Wind hat sich gelegt, und sie hören nur noch das eigenartige, durchdringende Zirpen unsichtbarer Zikaden.
    Es ist viel später. Er schläft, aber sie liegt wach neben ihm, die Hände auf seinem Rücken.
    Noch ehe ihre Finger die Stelle unter seinem linken Arm berühren, scheinen sie zu wissen, was sie suchen. Es ist, als hätten sie es die ganze Zeit gewusst und nur den passenden Moment abgewartet. Ihnen noch ein wenig Zeit gelassen. Vielleicht haben auch ihre Augen es schon gewusst und einfach beschlossen, nicht zur Kenntnis zu nehmen, was sie erblicken. Ihr noch einen Tag geschenkt.
    Doch jetzt registriert ihr Gehirn die dünne Narbe, die sich in seine linke Achselhöhle zieht. Eine sichelförmige Narbe. So klein, so unbedeutend. So leicht zu übersehen.
    Aber ihre Finger haben sie ertastet. Und sie kann nichts tun, um daran etwas zu ändern.
    Sie stürzt Hals über Kopf in das totale Nichts. Es ist, als hätte sich die Welt aufgelöst.
    Ihre Hand liegt noch auf seinem Rücken, doch sie selbst ist nicht mehr da.
    Sie ist nirgendwo, kann nirgendwohin.
    Ich zuckte zusammen, als George leise an die Tür klopfte. Er stand auf der Schwelle und sah mich an.
    »Entschuldigung, habe ich Sie erschreckt?«
    »Nein«, sagte ich. »Ich war nur in Gedanken versunken.«
    »Wir haben uns bloß gefragt, wo Sie bleiben«, entgegnete er mit verlegenem Lächeln.
    »Tut mir leid, ich habe hier gesessen und vor mich hingeträumt und dabei die Zeit aus den Augen verloren. Geben Sie mir ein paar Minuten, um mich umzuziehen.«
    Auf dem Weg ins Schlafzimmer rief ich ihm zu, er solle sich doch ein Glas Wein einschenken.
    Was ist los mit dem Mann?, dachte ich, als wir zu seinem Haus fuhren. Warum will er nie etwas über mich wissen? Er muss doch Fragen haben.
    Und ich verstand nicht, wieso er gesagt hatte, er sei ein schlechter Koch. Er hatte ein regelrechtes Festmahl zubereitet. Eine gegrillte Lammkeule, so zart und schmackhaft, dass er sie sehr sorgfältig mariniert haben musste. Wie lange war dieses Essen geplant gewesen? Süßkartoffeln aus dem Ofen, Salat. Und Brot, das ich für selbstgebacken hielt. Als ich ihn lobte, stand er auf und begann, den Tisch abzuräumen, als fiele es ihm schwer, ein Kompliment entgegenzunehmen. Ika half ihm, und ich beobachtete, wie er in der Küche herumflitzte. Offenbar fühlte er sich hier zu Hause, denn er kannte sich mit den Schubladen und Schränken aus, und die zwei schienen fast intuitiv zusammenzuarbeiten.
    Verspürte ich wieder einen Anflug von Neid? Und wenn ja, wen von den beiden beneidete ich?
    Nach dem Essen setzten wir uns ins Wohnzimmer. Ich schaute mich um. Es war ein großer, gemütlicher Raum, aber ich sah ihn jetzt mit anderen Augen. Ich meinte zu erkennen, dass er irgendwie unberührt wirkte. Wie der Zeit entrückt. Auf dem geschlossenen Flügel stand das Porträt einer jungen Frau. Ich fand sie wunderschön, wollte das Bild aber nicht anstarren und wandte den Blick ab.
    Doch George musste es bemerkt haben, denn als er Platz nahm, deutete er mit einem Kopfnicken auf das Foto.
    »Meine Frau war Pianistin«, sagte er. »Eine sehr talentierte Konzertpianistin. Aber dann brach sie sich bei einem Unfall das Handgelenk. Es ist nicht richtig verheilt, und das war, na ja, das Ende ihrer Karriere. Ich glaube, ich war untröstlicher deswegen als sie selbst. Lidia war …« Er suchte nach dem passenden Wort. »Sie war ein sehr positiv eingestellter Mensch. Immer in der Lage, Möglichkeiten zu sehen, wo ich nur Probleme sah. Es war ihre Idee, hierherzukommen. Ein neues, anderes Leben anzufangen.«
    Er hielt mir einen Teller mit Keksen hin, und ich bediente mich.
    »Und es wurde auch

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