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Fremde Federn

Fremde Federn

Titel: Fremde Federn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Unbekannter Autor
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Mal gesehen hatte, war sie schwarz gekleidet gewesen. Aber unter diesem Bild lag ein vielleicht noch schärferes, schmerzhafteres, wenn das überhaupt möglich war. Die Erinnerung an das ausgebombte Haus in der Fulham Road schleppte er mit, und er fragte sich, ob diese Erinnerung nicht direkt unter der Oberfläche eines jeden Ereignisses lag, jeder Begegnung, jeder Berührung, jeden Kusses, und ihn immer wieder zu verschlingen drohte. Die Leiche seiner Mutter, unter dem Gipsschutt begraben - bis auf den Arm im schwarzen Är-mel, der hervorstak, die Finger in dieser lockenden Gebärde gekrümmt.
    »Was ist? Was ist los?« Ihr Ton war besorgt.
    »Nichts.« Mit dem Glas Portwein in der Hand stand er auf.
    »Nichts.« Ihr Lächeln war ganz fein, bloß ein Schimmer.
    Er ging vom Tisch zum Fenster, durch das man auf die Steinmauer hinaussah, die den Bürgersteig neben der Kirche begrenzte. Ihm fiel ein, wie er vor Jahren in dem Park zwischen der Küche und dem Theater spazierengegangen war. Damals hatte er über seinen Mangel an innerer Gelassenheit inmitten einer solch friedlichen Szene nachgedacht. Selbst in der Dunkelheit hatte man das sonnenbeschienene Ufer gespürt, die dahingleitenden Schwäne, die Enten, die an Land ruderten, um sich ihre Brotkrumen zu holen.
    Damals war er müde gewesen, und jetzt war er es müde, sich weiterhin im Londoner Schwefeldunst abzuplacken.
    »Ich habe an den Krieg gedacht.« Er erzählte Jenny von dem Bombenangriff, als er sechs gewesen war, und von seiner Mutter.
    Endlich riß er sich von den Bilderfetzen los, und es entstand ein langes Schweigen. Er schaute weiter aus dem Fenster, fragte sich dann, wie lange er hier gestanden und vor sich hingeträumt hatte, drehte sich um und sah, daß Jenny immer noch am Tisch saß und ihren Kaffee trank und nicht ihn anschaute, sondern unverwandt geradeaus blickte, auf ein anderes Fenster, das Vorderfenster. Jenny hing ihren eigenen Gedanken nach. Er mußte lächeln. Als ihm das gemeinsame Schweigen bewußt wurde, legte sich eine wunderbare Ruhe über ihn. Er ging zu dem Sessel, in dem er zuvor gesessen hatte, nahm wieder Platz und sah sie an. Ihre Aufmerksamkeit richtete sich immer noch auf etwas anderes, vielleicht nach innen.
    Diese Erfahrung fand er ungewöhnlich und sehr angenehm. Sie waren beide in der Lage gewesen, jeder für sich dazusitzen und den eigenen Gedanken nachzuhängen, ohne Pausen oder Schweigen überbrücken und sich krampfhaft um ein Gespräch mit dem anderen bemühen zu müssen.
    In die Stille hinein sagte sie: »Schrecklich, entsetzlich.«
    Aus ihrem eigenen Kontext, ihren eigenen Gedanken heraus. Jury nahm an, daß ihr immer noch durch den Kopf ging, was er ihr erzählt hatte.
    »Wie oft haben Sie es seitdem getan?«
    »Was getan?«
    »Frauen aus brennenden Gebäuden gezogen.«

Kapitel 8/I
    Das ist das Stendhal-Syndrom«, sagte Diane Demorney und hielt Dick Scroggs ihr leeres Glas hin.
    Zu viert - zu sechst, wenn man Lavinia Vine und Alice Broadstairs an einem weiter entfernten Tisch mitzählte -saßen sie im Jack and Hammer. Der Pub mit der Figur des Jack, der zu jeder vollen Stunde den Hammer schwang und frisch türkisfarben gestrichene Hosen trug, befand sich in der High Street neben Truebloods Antiquitätenladen. Die Gruppe saß an ihrem Lieblingstisch in dem halbrunden Erker mit den Flügelfenstern, durch die trübes Licht schien, wie es sich für einen Nachmittag Ende Januar ziemte. Der Jack and Hammer war noch keine Stunde geöffnet, aber die Feierabendstimmung seiner Klientel ließ erkennen, daß der heutige Arbeitstag im wesentlichen abgeschlossen war.
    Beziehungsweise der Nicht-Arbeitstag, denn von den an den beiden Tischen sitzenden Herrschaften konnte man nicht unbedingt behaupten, sie arbeiteten, wenn »Arbeit« eine regelmäßige Beschäftigung bedeutete, zu der man morgens irgendwo antrat und die man nachmittags beendete. Bevor Diane Demorney in der Hoffnung auf Zuhörerschaft ihr obskures Thema angebracht hatte, war »Arbeit« Gegenstand der Diskussion gewesen. Joanna Lewes bestritt, daß das Schreiben ihrer Bücher überhaupt etwas mit Arbeit zu tun habe (das Lesen, ja, jede Menge). Marshall True-blood wiederum hätte als Geschäftsmann eigentlich allen Grund gehabt, zu behaupten, er »arbeite«; aber er verbrachte seine Tage doch eher damit, inmitten seiner antiken Schätze auf der faulen Haut zu liegen. Seine flexible Arbeitszeit gestattete ihm, den Jack and Hammer als sein Vorzimmer zu benutzen. (Wo er

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