Fremde Federn
Er war über Annette Bening gestolpert, von der er immer noch nicht wußte, wo er sie hinstecken sollte. Gleichzeitig durchforstete er seinen Stadtführer. Die Gasts gingen anscheinend nicht ins Poe-Haus. Er blätterte eine Seite weiter. Hughie bog links ein.
»Der über die Aluminiumverkleidungs-Typen, der hieß Tin Men -«
»Das haben Sie mir schon erzählt.« Melrose studierte die Planquadrate auf der Karte.
»- und Danny DeVito - zum Schreien -, der spielt auch mit. Und Richard Dreyfuss. Ja, Levinson ist aus Baltimore, und dem sollte auch der Football-Club gehörn, meinen Sie nicht? Einem aus Baltimore, jawohl, Baltimore! Verdammt, wir sind schließlich auch wer, was?« Um zu zeigen, daß er es ernst meinte, fuhr er wieder einmal freihändig und klatschte sich auf die Oberschenkel.
An der Kreuzung Howard/Baltimore Street erzählte Hughie Melrose, daß man vor langer Zeit, am Ende des letzten Jahrhunderts, eine Hundertjahr-Feier abgehalten und hier einen großen geschmückten Triumphbogen aufgestellt habe. »Den hat Barry Levinson auch in Avalon verwendet«, sagte Hughie, »und ein Riesenfeuerwerk veranstaltet. Den müssen Sie sich anschauen. Und Diner. Sie müssen Diner sehen.«
»Mit Mickey Rourke.« Melrose blätterte weiter.
»Ja, mit Mickey Rourke.«
Melrose kam sich vor, als führe er durch Beverly Hills.
Hughie, passionierter Cineast, erklärte Melrose, er werde ein bißchen durch die Gegend fahren und ihn später wieder abholen. Er könne auch im Auto warten und Zeitung lesen. Null Problemo.
Amity Street lag in einer eher ärmlichen Gegend im Nordwesten Baltimores, aber Melrose gefiel das kleine Haus mit dem winzigen Garten auf Anhieb. Nichts an dem bescheidenen Äußeren und Inneren deutete darauf hin, daß der frühere Bewohner des Hauses in den Jahren, während derer er hier gelebt hatte, solch schöpferische Kraft und traumartige Phantasien gehabt hatte. Zu Poe hätte ein schauriges Haus gepaßt - von wild wachsenden Bäumen umstanden und rankenüberwuchert, hier ein Giebel, dort ein Türmchen. Melrose kam plötzlich der Gedanke, daß Poe in Ardry End hätte leben sollen, wenn auch in Ardry End (außer Tante Agatha) nichts wild wucherte. Trotzdem, manchmal hatte es auch eine gruselige Atmosphäre, und aus einem der Gebäudeflügel hinten bot sich die Aussicht auf zerbrochene Zweige und vom Sturm gefällte Bäume. Und im Winter sah der Teich mit dem Fisch aus Blei wie ein dunkler Gebirgssee aus.
Der Kustos ließ Melrose ein. Er war groß und freundlich, sagte aber gleich, er müsse sich leider erst um die Handwerker, den Maler und den Tischler, kümmern. Melrose stand in einem kleinen Zimmer, das der vordere Salon gewesen sein mußte und jetzt noch kleiner wirkte, weil alles unordentlich war. Sie seien beim Renovieren, hatte der Kustos ihm schon am Telefon gesagt, wie jedes Jahr. Das Haus sei für den Publikumsverkehr geschlossen. Bei Melrose mache er eine Ausnahme.
Die Möbel waren zum Schutz gegen Farbspritzer abgedeckt; Stühle standen umgekehrt auf einem großen Tisch; Porträts waren von der Wand genommen und an einen Tisch gelehnt worden. Die nackten, rechteckigen Stellen, an denen sie gehangen hatten, wirkten auf Melrose wie vage Vorwürfe, als würden dem Zimmer Geheimnisse entrissen.
Die provisorische Atmosphäre, der Anblick, als seien die Dinge im Wandel, berührte Melrose fast schmerzlich. Je älter er wurde, desto mehr versuchte er, sich gegen Veränderungen zu wappnen. Für ihn bedeutete jeder Wechsel ein Abbröckeln, ein Zusammenbrechen der existierenden Ordnung, und er wehrte sich heftig dagegen: Es verdroß ihn schon, wenn Dick Scroggs aquamarinblaue Farbe auf das Holzwerk des Jack and Hammer klatschte.
Er betrachtete das berühmte Porträt Poes. Ohne den dunklen Schnurrbart hätte das Gesicht zerbrechlich gewirkt, der Ausdruck der Augen (was für Augen!) wurde durch die buschigen Brauen sozusagen auf den Erdboden zurückgeholt. Während er das Bild noch studierte, kam der Kustos mit einem Becher Kaffee zurück und zeigte ihm die anderen Zimmer.
Sie waren alle winzig; Melrose war erstaunt, daß Poe, seine Frau Virginia und Mrs. Clemm, ihre Mutter, hier of-fenbar friedlich und freundlich zusammengelebt hatten. Es bezeugte nur, wie sehr sie einander in Liebe zugetan gewesen waren, ja wirklich. Auch der Tonfall, in dem der Kustos erzählte, verriet dessen Zuneigung für die Familie.
Er stand in dem kleinen Zimmer, das Glasvitrinen, Bilder und Drucke beherbergte, den Becher
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