Fremde Federn
Han-nah. Meinen Sie die? Hannah Lean? Tante Noras Enkelin?« Bekümmert schüttelte sie den Kopf.
Nun betrachtete auch sie ihr Bier oder was immer tief darin verborgen lag.
»Ich habe ... eine Geschichte ... gehört. Über ihren Mann. Ich habe ihn nie kennengelernt.« Erwartungsvoll schaute sie Melrose an, als könne er ihr die Geschichte erzählen.
Was er auch tat. Jedenfalls den Teil, den sie noch nicht kannte.
»Wie schrecklich.«
Sie tranken beide ihr Bier und schauten in verschiedene Richtungen in unbestimmbare Fernen. In ihrem Blickfeld lag die Wüstenei vor dem Fenster, in seinem das Filmplakat von Lawrence von Arabien neben dem der Reise nach Indien. Es war nun sechs, sieben Jahre her, aber der Gedanke an Hannah Lean (und Jury) bereitete ihm immer noch Kummer.
Mit welchem Gefühl sie wohl am Schauplatz einer solchen Tragödie wohnte? »Gefällt es Ihnen? Water-meadows, meine ich.« Er dachte, sie würde sofort antworten. Aber sie schaute nur stumm in ihr Glas Bitter. Eine ganze Weile. So lange jedenfalls, daß Melrose ein wenig unbehaglich wurde. O Gott, hoffentlich geriet er nicht gleich - wie so viele - in diese Nervosität, die einen in zu langen Redepausen beschleicht und veranlaßt, sie mit leerem Geschwätz zu füllen.
Aber sie schien sich der Stille gar nicht bewußt zu sein und sagte schließlich: »Ich weiß nicht. Es ist sicher sehr schön, das schönste Haus, das ich je gesehen habe. Die Parkanlagen und der See. Die Weidenbäume, die Statuen. Das meiste ist im italienischen Stil, glaube ich. Mit dem Gärtnern hab ich's nicht so.« Sie tätschelte die Schiene unter ihrem Knie. »Da muß man soviel knien, sich bücken und wieder aufstehen. Aber ich bin gut im Beschneiden. Ich kümmere mich um die Spaliere und die Rosenbüsche. Ich habe mein ganzes Leben in London gewohnt. Mit meinem Onkel. Wir haben ein schmales kleines Haus in Limehouse. Ein >armseliges< kleines Haus, würden sicher manche Leute sagen. Das heißt >armselig< vor der Luxussanierung von Limehouse, als >armselig< noch nicht schick war. Jetzt sind die schäbigen alten Lagerhäuser alle Eigentumswohnungen. Mein Onkel hätte sein Haus für einen horrenden Preis verkaufen können.
Aber er hat nur gelacht. Er macht sich immer einen Spaß daraus, die ausländischen Automarken zu zählen, und nennt die neuen Bewohner den >Gin- und Jag-Set<.« Sie lachte. »Egal, er hat das Haus jedenfalls nicht verkauft, und dann hat uns Tante Nora Watermeadows angeboten. Onkel Ned war gleich Feuer und Flamme, aber ich glaube eher um meinetwillen als um seinetwillen. Er wollte, daß ich aus London rauskomme. In die frische Luft und zu den Blumen.« Sie beugte sich vor und stützte das Kinn in die Hand. »Ich bin trotzdem froh, daß er es nur gemietet hat. Ich mag das Londoner Haus. Es unterscheidet sich in nichts von einer Million anderer Reihenhäuser, aber ich mag es. Wenn man auf den Dachboden will, muß man Bergsteigerqualitäten entwickeln, so mickrige kleine Treppen hat es. Aber von einem Fenster von dort oben aus kann man über die Themse schauen. Der Raum ist sehr dunkel und das Fenster rund, es erinnert mich immer an eine Camera obscura, weil es mehr wie ein Guckloch als wie ein Fenster aussieht und das Panorama dahinter eher wie etwas, das man durch ein Periskop oder wie ein Spiegelbild sieht. Es ist so dunkel, daß sich die Augen nie richtig daran gewöhnen. Durch das Fenster konnte ich die Isle of Dogs sehen. Die Leute meckern ja ständig, daß durch die Bauerei alles zerstört wird, aber die Umrisse sind noch da, die Fußspuren.« Plötzlich hörte sie auf zu reden und sagte dann: »Ich weiß nicht, was das bedeutet.« Diesen Nachsatz schien sie an sich selbst zu richten, nicht an Melrose.
Dann fuhr sie fort: »Aus dem Bodenfenster sah die Themse nicht wie ein echter Fluß, sondern wie die Abbildung eines Flusses aus, wie ein Film oder eine Reihe Fotos. Da hatte ich immer das Gefühl, als könnte ich mich aus der Realität heraushalten.« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Ja, ich mag Watermeadows, aber ich glaube, nichts ist so schön wie das Haus, in dem man zu Hause ist. Geht es Ihnen bei Ardry End nicht genauso?«
Aus irgendeinem Grunde war Melrose überrascht, daß sie den Namen kannte. »Ja, wahrscheinlich ja. Sie wissen, daß wir Nachbarn sind?«
»Ja. Ich finde Ihr Haus wunderschön. Ich bin bestimmt auch schon über ihr Land gelaufen. Man merkt oft nicht, wo man -«
»Vorsicht!« In gespieltem Schrecken hob
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