Fremde Federn
Speisezimmer.
Das Haus der Crowns war bereits weihnachtlich geschmückt. Im zweistöckigen Foyer stand unter dem ausladenden elektrischen Kronleuchter ein fast drei Meter hoher Tannenbaum, darunter eine wunderschön geschnitzte Holzkrippe. Der Baum trug ein festliches Kleid aus Glaskugeln, Emailornamenten, Goldfäden und Silberlametta. Unzählige weiße Kerzen waren an seinen Zweigen befestigt. Sie wurden, wie in deutschen Haushalten üblich, am Heiligabend angezündet.
Im Speisezimmer brannten zwei Kerzen vom Adventskranz, der in der Mitte des langen Eßtisches lag. Auf der Anrichte stand eine geschnitzte, bemalte Holzfigur, die den heiligen Nikolaus mit langem Bart, Bischofsmütze und Krummstab darstellte.
Joe saß am Kopfende des Tisches. Er hörte seinen älteren Sohn kommen: das Nachziehen eines Beins und den abgehackten, rauhen Husten. Joe junior rauchte zuviel, nichts und niemand vermochte ihn davon abzuhalten. Der General zügelte seine Verärgerung und bürstete geistesabwesend nicht vorhandene Stäubchen von seinem makellosen Spenzer.
Joe junior erzeugte bei seinem Vater heftiges Mitleid und brennenden Zorn. Der Junge war ein tragischer Versager. Als Anhänger der sozialistischen Weltanschauung - er war mit dem durch und durch roten Gene Debs befreundet - hatte er in einer Schindelfabrik in Everett, Washington, wo er eine Zeitlang gearbeitet hatte, an einem Streik teilgenommen. Zwischen den Streikenden und bezahlten Raufbolden war es zu einer blutigen Auseinandersetzung gekommen. Zwei dieser Rabauken warfen Joe junior auf eine der Kreissägen, die Zedernstämme in Schindeln zersägte; die Säge schnitt ihm den rechten Fuß ab.
Nur dem schnellen Eingreifen einer Norwegerin namens Anna Sieberson war es zu danken, daß er nicht an Ort und Stelle verblutete. Er heiratete Anna und hätte auch ihren kleinen Sohn adoptiert, wäre Anna nicht frühzeitig von einer Grippe dahingerafft worden. Ihr Sohn zog zu Verwandten, und Joe junior kehrte als verbitterter, geschlagener Mann nach Chicago zurück.
»Guten Abend, Joe«, grüßte der General, als sein Sohn zur Tür hereinhumpelte.
»Hallo, Pa.« Joe junior setzte sich - nein, eigentlich ließ er sich auf den Stuhl fallen und sank in sich zusammen. Sein rechter Schuh lugte unter dem Tisch hervor, als wolle er in seinem Trotz alle daran erinnern, daß nur ein Korkfuß darin steckte. Schau ihn nur an, dachte Joe, schmutzige Fingernägel, Schweißflecke auf dem Hemd. Joe junior mußte demonstrieren, daß er zu den »einfachen Leuten« gehörte, obwohl er fast unentgeltlich unter Joe Crowns Dach lebte, Ilsas Mahlzeiten verzehrte und ein ungleich besseres Leben führte als jeder andere, der in der Brauerei einer niedrigen Beschäftigung nachging. Joe junior war dreißig. Er war so groß wie sein Vater und erinnerte an den jugendlichen Joe senior, bevor Bier und reichliches Essen dessen Bauch vorgewölbt und Ausschweifungen seine blauen Augen mit grauen Ringen unterlegt hatten.
Ilsa und Fritzi kamen herein. Ilsa setzte sich an eine Schmalseite des Tisches. Fritzi küßte ihren Vater auf die Stirn, murmelte »Papa« und begab sich zu ihrem Platz neben Joe. Die beiden Dienstmädchen stellten Platten auf den langen Tisch, einem Familienerbstück aus dunklem Walnußholz mit mächtigen, geschnitzten Beinen. Ilsa deckte immer mit einem Tischtuch aus feiner Spitze.
»Hast du mit deiner Mutter heute nachmittag Pauls Filme gesehen?« fragte Joe.
»Ja.«
»Wie war das Filmtheater?«
»Dunkel, aber sauber. Mr. Laemmles Empfehlung war genau richtig.«
»Du weißt ja, daß er sein eigenes Filmtheater White Front genannt hat, weil er hofft, der Name vermittle Sauberkeit und Achtbarkeit und ziehe ein besseres Publikum an. Eine vergebliche Hoffnung, wenn ihr mich fragt. Danke, Bess«, sagte Joe und nickte dem Mädchen zu, das einen Krug Crown Lager zu seiner Rechten abstellte.
»Pastor Wulf ist der Meinung, Filmtheater seien Brutstätten des Lasters, aber wir haben nichts Unmoralisches gesehen. Nur ein paar Jungs, die versucht haben, die Zeit totzuschlagen.«
»Pauls Filme sind wirklich bemerkenswert«, fuhr Fritzi fort. »Man sieht da Orte und Ereignisse, die man sonst nie zu Gesicht bekäme. Wir haben gesehen, wie der Präsident den Hebel einer riesigen Dampfschaufel betätigt hat, und wir haben Marokko gesehen.«
Joe nahm sich ein großes Stück von Ilsas Braten und reichte die Platte weiter. Unachtsam wie er war, hätte Joe junior sie beinahe fallen lassen. Joe warf ihm
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