Fremde Schiffe
sein Bündel. Falls Gefahr drohte, wollte er in Windeseile fluchtbereit sein.
Vom Balkon seines Schlafzimmers aus blickte er zu den gelben Dächern der Stallungen hinüber, die links vom Palast lagen. Genau unter dem Balkon lag eine der vielen Terrassen, hinter der sich eine sanft abwärts geneigte Rasenfläche mit vielen Bäumen und Sträuchern ausbreitete. Innerhalb kürzester Zeit konnte er über das Balkongeländer und auf die Terrasse hinabspringen und zu den Stallungen laufen. Zufrieden holte er sein Bündel und stellte es unauffällig neben der Balkonbrüstung ab.
Ruhelos schritt er später auf seiner eigenen Terrasse hin und her. Die Reste des Frühstücks waren von Dienstboten, die lautlos wie Geister auftauchten und wieder verschwanden, entfernt worden. Von irgendwoher drang der Klang von Lauten und Flöten an sein Ohr, als wäre es ein ganz gewöhnlicher Tag. Bestimmt hatte Shazad das befohlen: Jeder musste alltäglichen Arbeiten nachgehen, damit die vertrauten Gewohnheiten halfen, eine Panik zu unterdrücken.
In den bergab führenden Straßen erblickte Ansa lange Prozessionen und immer wieder tauchten Männer auf, die Bahren auf den Schultern trugen. Man brachte die Toten zum Begräbnis. Besser gesagt, zur Verbrennung. Wie viele mochten es sein?
»Vierhundert«, sagte eine Stimme hinter ihm, als hätte sie seine Gedanken erraten. Er wandte sich um und erblickte Shazad, die gerade die Terrasse betrat. »Heute Morgen sind es vierhundert – mehr oder weniger. Heute Abend vielleicht schon tausend.« Sie trat ans Geländer und betrachtete ihre dahinsiechende Stadt. »Wir müssen sie verbrennen und das betrübt die Leute fast so sehr wie die Seuche selbst. Wir sind ein Volk mit alten Sitten und Gebräuchen, Ansa. Wir hängen daran und es gibt keine heiligeren Rituale als jene, mit denen wir unsere Toten ehren. Ein Begräbnis dauert sechs Tage und es gibt genau vorgeschriebene Zeiten für die Trauer und die eigentliche Bestattung, die selbst die Ärmsten der Armen mit viel Prunk durchführen. Kein Toter darf wie Unrat einfach verbrannt werden.«
»Wird es deshalb Ärger geben?«
»Es wird lange Zeit nichts als Ärger geben.« Sie sah ihn an. »Schon jetzt schlagen meine Ratgeber vor, ich solle die Stadt verlassen.«
»Tu das nicht!«, riet er ihr. »Sie wollen in deiner Abwesenheit die Macht an sich reißen.«
Die Andeutung eines Lächelns umspielte ihre Lippen. »Dein Vater hat dich gut unterrichtet. Ja, ich kenne alle Schliche. In der Vergangenheit brach nach einer Seuche häufig ein Bürgerkrieg aus.«
»Vielleicht ist die Lage nicht so ernst«, sagte er ohne Überzeugung. »Vielleicht sterben ein paar hundert Menschen und dann ist der Spuk vorbei.«
»Bei allen Göttern – das hoffe ich.« Sie schüttelte den Kopf. »Nur in Zeiten wie diesen wende ich mich an die Götter. In meiner Jugend war ich eine begeisterte Anhängerin verbotener Sekten. Ich beteiligte mich an Zeremonien zu Ehren von Göttern, die seit mehr als tausend Jahren in Neva verboten waren. Zauberei und schwarze Magie faszinierten mich.«
Er fragte sich, warum sie ihm das erzählte. Wahrscheinlich musste sie einfach mit jemandem sprechen, der nicht zu ihrer unmittelbaren Umgebung gehörte, ihr aber dennoch annähernd ebenbürtig war. Wenn es das war, was sie brauchte, dann wollte er sich als williger Gesprächspartner erweisen. Noch hatte er nicht jede Hoffnung aufgegeben, ihre Hilfe gegen Mezpa zu erringen.
»Wenn man sehr jung, verantwortungslos und verwöhnt ist, erscheinen alle Arten von Orgien sehr verführerisch. Ich war eine Marionette abtrünniger Priester und böser Magier.« Sie warf einen Blick auf die unter ihr liegende Stadt. »Die meisten von ihnen ließ ich hängen, als ich wieder bei klarem Verstand war. Aber es gibt immer mehr und heute haben sie viel zu tun. Diese Seuche wird vielen Scharlatanen Wohlstand bescheren.«
»Du musst den offiziellen Befehl erlassen, dass jeder hingerichtet wird, der den Leuten die Erlösung von der Seuche verspricht, wenn sie verbotene Götter anbeten«, schlug Ansa vor.
»Das habe ich bereits, auch wenn es wenig nützt. Verzweifelte Menschen hören nicht auf warnende Worte. Gäbe es nur eine Möglichkeit, diese Krankheit zu bekämpfen! Meine Ärzte sind sicher, dass die Fremden die Seuche mitbrachten, wissen aber nicht, wie sie sich ausbreitet! Durch Wasser? Durch Atemluft? Durch Berührungen?«
»Wie können sie so sicher sein, dass die Fremden schuld sind?«
»Alles andere
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