Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Fremde

Fremde

Titel: Fremde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gardner R. Dozois
Vom Netzwerk:
der Terrasse war es weniger gespenstisch, weniger schal und klaustrophobisch; hier unten gab es auch mehr Leute und ein willkommenes Gefühl von Weite, von offener Luft bis zum Horizont, zu dem sich die Neustadt tief unten ausdehnte. Er spazierte fast eine Meile über die Esplanade, und dann, an der Kreuzung zum Winterweg – eine Treppe, so steil, daß man sie wie eine Leiter hinaufsteigen mußte, die in den felsenverborgenen Bezirken der alten Innenstadt verschwand –, fand er etwas, das wie ein Museum wirkte. Jedenfalls stand die Tür offen – die einzige offene Tür, die er an diesem Nachmittag gesehen hatte –, und er sah kleinere Gruppen von Cian, die augenscheinlich frei hinein- und hinausgingen; das Gebäude, staubig und schlecht beleuchtet, war angefüllt mit Artefakten aller Arten, einige auf Tischen aufgetürmt, andere auf niedrigen Bänken, einige auf dem Boden gestapelt oder an den Wänden entlang, andere auf regalartigen Borden oder sogar auf Treppenstufen, die von der Decke hingen. Es gab keine Wächter, keine Kartenverkäufer, keine Führungen, keine Ausstellungsvitrinen, keine erklärenden Tafeln oder Zeichen, keine Bezeichnungen an den Stücken – was das betraf, so schienen die Gegenstände nicht einmal nach irgendeinem organisatorischen oder ästhetischen Gesichtspunkt geordnet, sondern einfach aufgestellt zu sein, wie es sich gerade ergeben hatte. Offensichtlich konnte man so lange bleiben wie man wollte, ohne Behinderung hinein- und wieder hinausgehen; niemand schien verantwortlich zu sein, es gab keine Museumswächter oder Hausmeister, und Farber fragte sich, ob das Haus wohl die ganze Nacht über offenblieb, wenn es überhaupt jemals geschlossen wurde. Die Cian wanderten durch das Gebäude, nahmen die Dinge in die Hand und betrachteten sie eingehend, stellten sie vorsichtig zurück, gingen weiter, und Farber fragte sich, ob Schrein nicht eine angemessenere Bezeichnung war als Museum, wenn auch keiner der Cian den ausgestellten Gegenständen gegenüber eine ehrfürchtige Haltung einzunehmen schien.
    Museum oder Schrein, es waren wunderschöne Dinge darin: alte Werkzeuge, Glocken, Pflüge, Schlüssel, bemalte Leinwand, Münzen, bronzene Küchengeräte, die mit der Zeit grün angelaufen waren, prächtige Hornkämme, lange rostige Ketten, massive Obsidianskulpturen, kleine Porzellangötter, Nägel, hölzerne Wagenräder, Vasen, Zaumzeug mit gelblichen Edelsteinen besetzt, ausgeblichene Kleidungsstücke mit prachtvoller Goldbordüre, zerbrochene Töpfe, Musikinstrumente aller Arten, Forken, Pergamente mit alten Versepen, alte Ziegelsteine und Teile von Pflastersteinen, Masken, geschnitzte Dämonen, verbogene Löffel, monströse Kopfmasken und Tausende anderer Objekte, die er nicht einmal ansatzweise identifizieren konnte. Es war ein Paradies für einen Archäologen, ein Gerümpelhaufen ohne Schmutz und Kehricht (wenn auch einiges wie Abfall aussah), und er fragte sich, ob Ferri es kannte – er hatte einen kleinen, lustigen Tagtraum über Ferri, wie er Gegenstände unter den Mantel schob und sie hinauszuschmuggeln versuchte, wie Alarmglocken ertönten, unsichtbare Wächter sich aus dem Nichts materialisierten und den kleinen Ethnologen mit Energiegewehren und Hellebarden bedrohten …
    In einem Hinterzimmer, das einzig von einem staubgoldenen Schimmer Nachmittagssonne durch ein schmales Fenster beleuchtet wurde, fand Farber eine komplette Rüstung, in sonderbarer Kettentechnik gefertigt, die aufrecht gegen eine Wand lehnte. Sie hielt einen zweischneidigen Speer in der einen und eine stachelbewehrte Keule in der anderen; am Gürtel hing ein breites Schwert mit dreieckiger Klinge, zusammen mit einem Gegenstand, der wie ein überdimensionaler Nußknacker aussah; Stiefel, Handschuhe und die einteilige Ledertunika waren schwarz, der darüberliegende Kettenpanzer aus angestaubtem, angelaufenen Silber. Auf der Brust lag eine flache Metallplatte, wiederum schwarz, die in Silber mit Reihen von Kindergesichtern verziert war – ernsthaft und unheimlich melancholisch – und dazu mit einem lidlosen roten Auge. Der Helm war aus einem silbernen Metall, gekrönt von knochigem Gehörn, das sich noch einmal drei Fuß in die Höhe erstreckte. Das Visier des Helms war zurückgeschoben, und innen schimmerte Gebein – plötzlich merkte Farber, daß in der Rüstung ein Skelett steckte. Unter dem Visier blickten tote, leere Höhlen, in denen einmal Augen gesessen hatten, aus dem Schädel. Er fühlte, wie ihm das

Weitere Kostenlose Bücher