Fremder in einer fremden Welt
>Es ist später, als du denkst< konnte auf marsianisch nicht ausgedruckt werden, auch >Eile mit Weile< nicht, wenn auch aus einem anderen Grund. Die erste Idee ist für einen Marsianer unfaßbar, während die zweite eine Grundwahrheit darstellt, die man ebensowenig auszusprechen braucht, wie man einem Fisch sagt, er solle schwimmen. Aber >Wie es war im Anfang, jetzt und alle Zeit und von Ewigkeit zu Ewigkeit<, ist in der Stimmung so marsianisch, daß es leichter übersetzt werden kann als >zwei und zwei ist vier< - was auf dem Mars kein Truismus ist.
Smith wartete.
Brush kam herein und sah ihn an Smith bewegte sich nicht, und Brush ging wieder.
Smith hörte einen Schlüssel in der Außentür und erinnerte sich, dieses Geräusch kurz vor dem letzten Besuch seines Wasserbruders ebenfalls gehört zu haben. Also änderte er seinen Metabolismus vorbereitend für den Fall, daß sich die Sequenz wiederholte. Er wunderte sich, als die Außentür sich öffnete und Jill hereinglitt, denn er war sich nicht bewußt gewesen, daß das eine Tür war. Aber er grokte es sofort und gab sich der freudigen Fülle hin, die einen nur in Gegenwart seiner Nestlinge, seiner Wasserbrüder und (unter bestimmten Umständen) der Alten überkommt.
Seine Freude wurde gedämpft durch die Erkenntnis, daß sein Bruder sie nicht teilte - er wirkte so verzweifelt, wie es eigentlich nur bei jemandem möglich ist, der kurz davorsteht, wegen eines ehrenrührigen Mangels oder Versagens zu dekarnieren. Aber Smith hatte gelernt, daß diese Wesen Emotionen, die schrecklich zu kontemplieren waren, aushalten konnten, ohne zu sterben. Sein Bruder Mahmoud fiel fünfmal am Tag in eine spirituelle Agonie und starb nicht nur nicht, sondern beschwor die Agonie als etwas Notwendiges sogar eigens herauf. Sein Bruder Captain van Tromp litt unter grauenhaften, unvorhersehbaren Krämpfen, die nach Smith' Begriffen jedesmal die sofortige Dekarnierung hatten hervorrufen müssen, um den Konflikt zu beenden. Und doch war dieser Bruder, soviel er wußte, immer noch inkarniert. Deshalb ignorierte er Jills Erregung.
Jill reichte ihm ein Bündel. »Hier, zieh das an. Schnell!«
Smith nahm das Bündel und wartete. Jill betrachtete ihn und stöhnte. »Ach du meine Güte! Na gut, zieh deine Sachen aus! Ich werde dir helfen.«
Sie war gezwungen, ihn sowohl aus - als auch anzuziehen. Er trug ein Krankenhaushemd, einen Bademantel und Pantoffeln, nicht weil er es so wollte, sondern weil man es ihm gesagt hatte. Inzwischen konnte er damit fertigwerden, aber nicht schnell genug, um Jill zufriedenzustellen. Sie pellte ihn in aller Eile heraus. Da sie Krankenschwester war und er niemals von dem Keuschheitstabu - das er gar nicht begriffen hätte -, gehört hatte, stellten sich ihnen keine Bedenken in den Weg. Er war entzückt über die falschen Häute, die Jill ihm über die Beine zog. Sie ließ ihm keine Zeit, sie zu ehren, sondern befestigte die Strümpfe, da ihnen ein Strumpfhaltergürtel fehlte, mit Leukoplast an seinen Beinen. Die Schwesterntracht, die sie ihm anzog, hatte sie unter dem Vorwand, eine Cousine von ihr brauche eine für eine Maskerade, von einer größeren Frau ausgeliehen. Jill hakte ein Schwesterncape an seinem Kragen fest, das die geschlechtlichen Unterschiede zum größten Teil verbarg - jedenfalls hoffte sie es. Mit den Schuhen war es schwierig, sie paßten nicht gut, und Smith fand das Gehen in diesem Schwerkraftfeld schon barfuß mühselig.
Aber sie brachte ihn in die Kleider und steckte eine Schwesternhaube auf seinem Kopf fest. »Dein Haar ist nicht sehr lang«, bemerkte sie ängstlich, »aber es ist so lang, wie manche Mädchen es tragen, und muß genügen.« Smith antwortete nicht, da er die Bemerkung nicht ganz verstanden hatte. Er versuchte, sein Haar länger zu denken, merkte jedoch, daß das Zeit kosten würde.
»Jetzt hör gut zu!« sagte Jill. »Ganz gleich, was passiert, du sprichst kein Wort. Ich werde alles erledigen. Hast du verstanden?«
»Nicht sprechen. Ich werde nicht sprechen.«
»Komm einfach mit mir - ich werde deine Hand halten. Wenn du irgendwelche Gebete kennst, bete!«
»Beten?«
»Laß nur! Komm mit und sprich nicht!« Sie öffnete die Außentür, spähte hinaus und führte ihn den Korridor.
Niemand schien sich sonderlich für sie zu interessieren. Smith fand die vielen fremdartigen Konfigurationen im höchsten Maße bestürzend. Bilder stürmten auf ihn ein, und es gelang ihm nicht, seine Augen auf sie einzustellen.
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