Fremdes Licht
er nirgends mehr sicher. Dann war er Freiwild für
sie.
Und der weiße Barbar hatte bestimmt alle Schlösser in
der einzigen leeren Halle von R’Frow auf seinen Daumen geeicht,
damit ihm niemand auflauern konnte. Es gab keine offenen Türen
in R’Frow.
Dahar schleppte sich durch den Flur in der Unterrichtshalle. Nein,
kein Klassenraum – diese Räume waren blind und taub. Er
wollte hören und sehen, was um ihn herum vorging. Da, wo der
Flur im rechten Winkel abbog, bildeten die Wände einen kleinen
dunklen Alkoven. Von hier aus konnte er zwei Torbögen einsehen.
Er wankte noch einmal nach draußen vor die Halle, wo er ein
paar dünne, besonders spröde Zweige auflas. Er legte sie in
den Fluren aus, in der Nähe der beiden einsehbaren
Eingänge, jeweils im schattigen Bereich zwischen zwei
glühenden Kreisen. Das Knacken würde ihn wecken. Er kauerte
sich in den Alkoven und legte seine Waffen griffbereit auf den Boden.
Er lag eine ganze Weile todmüde da und starrte ins Leere. Der
Schlaf ließ auf sich warten…
Er lag mitten im Niemandsland. Er hauste schon immer im
Niemandsland, wo ringsum die kalten Nebel aus dem sumpfigen Boden
stiegen, wo ein Fehltritt den Tod bedeuten und man sich hoffnungslos
verirren konnte. Er hatte sich verirrt. Er war ein Narr, hatte
versucht, zwei Herren zu dienen, der Gedwissenschaft und dem Schwert
der Ehre. Aber Wissenschaft hatte nichts mit Ehre zu tun, nichts mit
Kriegern – Wissenschaft, das war dieser leere, graue, halbdunkle
Wroffkäfig, zu dem sich die Nebel verfestigt hatten –
dieser Käfig, der ihm Schutz bot und ihn mit Einsamkeit strafte
– Wissenschaft, das war dieser kalte metallische
Schmerz…
Sie waren noch zu jung für die Kader. Er jagte draußen
in der Savanne, zusammen mit Gleichaltrigen. Sie wußten, sie
bekamen Prügel von ihrem Lehrmeister, weil sie sich vom
Sportplatz gestohlen hatten. Es war Spätlicht, die Luft war
heiß und der Himmel blau. Er schoß einen Pfeil mitten in
diesen Himmel hinein – und traf einen Krihund, ein verwachsenes,
dreiäugiges Monster mit Fangzähnen. Er konnte die
Fangzähne nicht sehen, wußte aber, daß sie sich in
diesem Maul versteckten. Die anderen wollten das häßliche
Tier töten, aber er stellte sich schützend davor und rief:
»Nein! Nein! Ich muß diesen Krihund zu meiner Mutter
bringen! Sonst stirbt sie!« Aber die anderen schubsten ihn
beiseite und töteten das Tier, und in dem Moment, da sie ihn
schubsten, da spürte er Kelovars Messer an der Kehle…
Ein Zweig knackte.
Dahar war sofort hellwach. Lautlos zog er sich tiefer in die
Nische zurück, in der einen Hand das Messer und in der anderen
das Kugelrohr. Er kämpfte gegen die lähmende Trägheit
in seinem Kopf.
Unten im linken Flügel stand eine Gestalt, eine vage
Silhouette im halbdunklen Torweg. Jelitische Krieger waren
größer. Und er hatte noch nie einen so untersetzten
delysischen Soldaten gesehen, jedenfalls keinen männlichen. Eine
Frau? Aber keine Kriegerin. Die Gestalt hatte einfach nicht die
Proportionen eines Kämpfers; sie war zu ausladend.
Mit dem Rücken an der Wand stemmte Dahar sich langsam auf die
Füße und manövrierte sich lautlos in die beste
Ausgangsposition. Seine Muskeln und Sehnen richteten sich auf Kampf
ein.
Plötzlich wurde er geblendet – ein kaltes orangefarbenes
Licht schien ihm direkt ins Gesicht.
»Ohne Schloß kannst du hier nicht bleiben«, sagte
Grax. Er hielt einen orangefarbenen Lappen in der Hand. »In
R’Frow haben alle Menschen ein Daumenschloß. Du brauchst
auch eins.«
»Eure Daumen öffnen alle Schlösser.«
32
Nachdem die Graue Mauer sie ins Freie gedrängt hatte,
hatte Ayrid sich auf die Suche nach den Pflanzen gemacht, die Dahar
ihr beschrieben hatte.
Ihr fiel ein, daß sie Ballonkraut am Pfad zur
Unterrichtshalle gesehen hatte; das war an dem Tag gewesen, als es in
R’Frow zum erstenmal geregnet hatte. Das Kraut hatte hinter
wunderschönen Schneeglöckchen geblüht, tief im
Schatten, am Fuß eines Baums. Die Schneeglöckchen mochten
im neuen Regen wieder aufgeblüht sein, und wenn nicht, dann
würde sie den Baum auch so finden. Es war ganz in der Nähe
der Unterrichtshalle gewesen, an einer Windung des Wroffpfads. Die
Pfade der Geds waren so gewunden und verschlungen wie die Muster
ihrer Kissen; nur ihre Wände waren gerade.
Sie spürte immer noch Dahars heiße Hand auf dem Arm.
Was war passiert in den Stunden, die sie bei dem kranken Riesen
verbracht hatte?
Hinter einer Baumgruppe bewegte
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