Fremdes Licht
sich ein Schatten, und Ayrid
erstarrte. Der Schatten kam näher und entpuppte sich als ein
Steinmetz, den Ayrid nur flüchtig kannte, ein schwerer,
rothaariger Mann, um dessen Mund ein ungewöhnlich grimmiger Zug
lag. Er nickte Ayrid zu und ging weiter.
Sie brauchte nicht lange zu suchen und fand das Ballonkraut da, wo
sie es gesehen hatte, hinter den Schneeglöckchen. Die
Schneeglöckchen waren alle verwelkt.
Sie kniete auf dem Metallpfad, teilte mit beiden Händen das
hohe Gras und spähte in die Düsternis unter dem Baum.
Schneeglöckchen wuchsen auch in Delysia. Blaßgrün
hätten die Blätter sein müssen, zart geädert mit
Rot, sie fühlten sich pelzig an. Die hier waren grau. Sie hielt
eins gegen den fahlen Schimmer der Kuppel; das Grün darin war
nur mehr ein Schatten seiner selbst. Die Adern waren blaß und
dünn, und die kurzen Stiele – die kräftig und holzig
sein sollten – waren schlaff.
Ayrid betastete das Erdreich unter dem Baum. Es war feucht genug.
Sie erhob sich und watete ein Stück weit durch das Unterholz,
bis sie zu einem Strauch kam, der ihr bis zur Stirn reichte. Dieser
Strauch war ihr überall in der Savanne begegnet; hieß das
nicht, daß er zäh genug war, um Kälte, Hitze,
Dürre und Überschwemmung zu widerstehen? Sie untersuchte
den Strauch. Das Holz war noch fest und elastisch, aber das Blattwerk
war spärlich; Ayrid konnte die winzigen Vorsprünge
fühlen, wo die Blätter abgefallen waren. Die verbliebenen
Blätter waren blaß, und nirgends sprossen neue.
Ihr fiel etwas ein, das Grax vor kurzem gesagt hatte, als er sie
und Dahar abwechselnd ins Vergrößerungsgerät hatte
blicken lassen, um ihnen die Teilung eines Zellkerns zu zeigen. Was nicht wächst, hatte er gesagt, das stirbt.
Lag R’Frow im Sterben?
Ayrid sah sich um. Aber woher sollte sie wissen, welche Pflanzen
krank waren? Sie wußte ja nicht einmal, wie sie aussahen, wenn
sie gesund waren. In einem Glashof gab es nicht viele Pflanzen; die
einzigen Pflanzen, die sie näher kannte, waren Zierpflanzen oder
solche, die verbrannt wurden, weil man ihre Asche beim Glasmachen
brauchte. Es sah aber ganz so aus, als ob viele dieser Pflanzen hier
von einer schleichenden Schlaffheit, einer Mattigkeit befallen waren,
die sie weder sterben noch gedeihen ließ – wie Pflanzen,
die man aus der Savanne nach Delysia geholt hatte, wo sie dann vor
sich hinkümmerten, weil sie zuwenig Sonne bekamen.
Ein Jahr – war das die Lebensspanne, die R’Frow
zugedacht war? Grax hatte jedenfalls nie etwas Gegenteiliges gesagt.
Erst jetzt begriff sie, daß das mit dem Licht zu tun hatte, mit
diesem warmen und unnatürlichen Licht, das alles so viel
leichter machte, als es die rauhen Tage und endlosen Nächte von
Quom zuließen.
Licht – da war noch etwas in ihrem Kopf, das mit dem Licht zu
tun hatte… es machte ihr eine lange Nase und war
verschwunden.
Das Ballonkraut sah ziemlich munter aus. Sie pflückte davon
und auch von den giftigen Spießbeeren und machte sich damit auf
den Weg zu den delysischen Hallen. Während die Hallen
überquollen vom Lärm des delysischen Basars, wurden
außen vor den offenen Torbögen immer Feuer geschürt,
auf denen Frauen gegen Bezahlung kochten, was die Jäger aus der
Wildnis brachten; sie taten all das, wozu die Jäger keine Lust
mehr hatten. Dazu gehörte auch das Würzen mit
Kräutern; für ein paar Münzen würde ihr eine der
Frauen die Blätter und Beeren so zubereiten, wie Dahar es
beschrieben hatte. Ob eine Köchin wußte, daß man
daraus ein betäubendes Getränk mischen konnte? Wohl kaum
– niemand wußte, was Kriegerpriester wußten, nicht
einmal delysische Heiler.
SaSa war inzwischen mit ihrem Schmerz und ihrem Gram allein. Armes
Kind… Ayrid legte einen Schritt zu.
Der Lärm, der ihr entgegenschlug, war anders als sonst. Als
sie durch den Torbogen trat, blieb sie wie angewurzelt stehen. Das
war nicht der übliche Tumult des Basars. Hier herrschte Chaos.
Einer übertönte den anderen. Man debattierte, hieb sich die
Faust in die Hand, schimpfte, brüllte. Der Zorn hatte einen
bedrohlichen Grad erreicht; was sich hier abspielte, erinnerte Ayrid
an die erste Nacht in R’Frow, als Khalid die Wut und die Angst
der Delysier gebändigt und sich Respekt bei den Soldaten
verschafft hatte.
Ondur, die neben Ayrids Zimmer wohnte, stand mit ihrem Liebhaber,
dem Soldaten Karim, am Rand des Tohuwabohus. Als sie ihre Freundin
entdeckte, ließ sie ihn stehen und kam mit ausgestreckten
Händen auf Ayrid
Weitere Kostenlose Bücher