Fremdes Licht
hier… in
R’Frow.« Seine Stimme hatte gezögert, fast
unmerklich.
Ayrid war dieses winzige Zögern nicht entgangen, und es regte
sie mehr auf als alles andere. Daß er sein Leben riskierte, um
ihr Bein zu richten – daß er heimatlos war, seit man ihn
aus dem Kriegerstand verstoßen hatte – all das verlor an
Bedeutung angesichts dieses winzigen Zögerns. Er also auch.
Er war sich auch nicht sicher. Mit einer Ehrfurcht, die an
Verzweiflung grenzte, stand er vor dem unermeßlichen Reichtum
der Gedwissenschaft, vor einer Macht, die mit dem menschlichen
Verstand so umspringen würde wie ein Erdbeben mit einem
abgestandenen Tümpel. Und für dieses Erdbeben würde er
jeden Preis zahlen – er, dem man beigebracht hatte, daß es
um die Ehre und nicht um den Preis ging. Und er ahnte, was ihn
erwartete. Wenn er das Erdbeben über sich ergehen ließe,
dann würde er sich zwar in einer neuen, unsäglich
fruchtbaren Landschaft wiederfinden, aber er würde ein Fremder
in der Fremde sein, einsam und entwurzelt. Die Macht der Geds rumorte
unter den Füßen, und es gab kein Entrinnen.
Ayrid sah ihm an, daß er entschlossen war, den Sprung ins
Ungewisse zu wagen, aber das winzige Zögern sagte ihr, daß
er Angst hatte – ähnlich wie sie.
Er sah ganz deutlich den gähnenden Abgrund zwischen den
Fähigkeiten der Geds und denen eines Kriegerpriesters – und
ließ sich nicht entmutigen. Der Anblick dieses Abgrunds hatte
aus ihm keinen neidvollen, gehässigen Kelovar gemacht –
keine verstörte, sprachlose SaSa – keinen selbstherrlichen,
blinden Karim. Dahar blickte über den Abgrund hinweg und
schätzte die Entfernung – nicht ohne Angst, aber mit soviel
Verstand und Mut, wie ihr noch nirgends begegnet war.
Dahars Augen waren immer noch mit dem Wust an Dingen
beschäftigt, die auf dem Boden herumlagen. »Eins steht
fest, Ayrid. Du begreifst, was die Gedwissenschaft bedeutet.
Ich habe dich beobachtet, wie du im Unterricht…« Er
stockte.
Sie wußte besser als er, warum er stockte. Das ganze Zimmer,
alles darin, selbst die Luft schien so zerbrechlich zu sein wie Glas.
Ein Krieger beobachtete keine delysische Frau, und schon gar nicht
mit Respekt, wie es bei Dahar geklungen hatte. Gab es überhaupt
Frauen, die ein Krieger mit Respekt betrachtete – abgesehen von
den Kriegerinnen, die tabu für ihn waren? Bestimmt hatte er
zeitlebens nur mit Huren geschlafen, mit solchen Mädchen
wie…
Über diese Beziehung zwischen Krieger und Hure hatte sie sich
schon am Morgen geärgert, an der Grauen Mauer. Wie viele Huren
gab es in den jelitischen Hallen? Die kleine SaSa, die man grün
und blau geschlagen hatte…
»Ich habe dich jedenfalls beobachtet«, sagte Dahar fast
unwirsch, »und ich habe nichts von Delysia gesehen. Da war nur
R’Frow. Die Gedwissenschaft und R’Frow.«
Dahar setzte sich neben sie. Sie hielt sich ganz still. Er hielt
das Gesicht abgewandt. Die Spannung wuchs, stand wie Glas zwischen
ihnen, greifbar, zerbrechlich. Was, wenn sie die Hand hob und ihn
berührte? Er war kein Soldat. Er war zeitlebens jelitischer
Krieger gewesen, ein Feind, und er hatte nur Huren
angefaßt.
Schroffer als sie gewollt hatte, sagte sie: »Ich bin nicht
R’Frow. Ich bin gar nichts. Keine Delysierin, keine Jelitin,
keine… kein Ged. Und du auch nicht. Wir sind
Verbannte.«
Er schwieg. Dann sagte er erstaunlich sanft: »Wie alt ist
deine Tochter?«
»Elf. Sie ist elf.«
»Wer kümmert sich jetzt um sie?«
»Die Schwester meiner Mutter. Es wird ihr an nichts fehlen.
Aber…« Die Worte schnürten ihr die Kehle zu.
»Aber du vermißt sie.«
»Ich vermisse sie sehr.«
»Wer ist ihr Vater?«
»Ein Soldat. Er ist tot. Er ist gestorben, da war sie noch
sehr klein.«
Seine Stimme klang anders, als er fragte: »Auf dem
Schlachtfeld?«
»Nein. Nein – an einer Krankheit. Der Heiler wußte
nicht, woran. Delysische Heiler sind längst nicht so beschlagen
wie ihr.«
»Wie wir«, sagte er mit soviel Bitterkeit in der Stimme,
daß sie ihn offen ansah. Aber er hatte sein Gesicht unter
Kontrolle, hatte jede Gefühlsregung daraus verbannt. »War
er… dein Ehemann?«
»Das ist nicht wie bei jelitischen Bürgern«, sagte
sie unmißverständlich und faltete die Hände. »Er
war damals mein Liebhaber. Wir waren nicht…
vermählt.«
Dahar schwieg. Ayrid hörte sich wieder reden, wollte ihm
begreiflich machen, was ihr so selbstverständlich und ihm so
unverständlich erschien.
»Kinder leben bei der Familie der Mutter. Die
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