Fremdes Licht
Raumfahrt einander nicht
aus. Es muß einen Ausgleich geben…
Wie er zustande kommt, wissen wir nicht.«
ZWEITER TEIL
Wände
Wer tausend Freunde hat, hat keinen zuviel,
Aber wer nur einen Feind hat,
Begegnet ihm auf Schritt und Tritt.
- ALI IBN-ABI-TALIB
9
Sie hatten die Sonne bewegt.
Ayrid stand in R’Frow und starrte in den Himmel. Ringsum
strömten Delysier aus dem Torbogen in die Stadt, alle bekamen
die Stadt zum erstenmal zu Gesicht. Sie drängelten und
strauchelten und schrien durcheinander, doch Ayrid stand still da und
hörte nichts von alledem, ergriffen von angstvollem Staunen, das
ihr Schauer der Erregung durch den Körper jagte. Sie hatten
die Sonne bewegt.
Als sie durch das äußere Portal gelaufen war, hatte
Frühnacht gedämmert. Sie wußte nicht, wie lange sie
in dieser Kammer geschlafen hatte, sie wußte nicht einmal, wie
sie dahingelangt war, aber während die Geds zu den aufgewachten
Delysiern gesprochen hatten, hatte Ayrid den blaßäugigen
Soldaten gesehen, der ihr das Los bei der Bril besorgt hatte. Da
draußen hatte er einen leichten Stoppelbart gehabt, der
vielleicht einen Tag alt gewesen war; er hatte ihn noch immer. Die
Stoppeln sahen nicht aus, als ob sie inzwischen gewachsen waren. Also
mußte immer noch Frühnacht sein, höchstens aber
Finstertag. Und trotzdem herrschte über R’Frow der Himmel
von Dreitag, zu verhangen, um die Sonne ausmachen zu können,
aber es war eindeutig Tag. Und die Luft war warm, die milde,
gleichmäßige Wärme des jungen Frühmorgens.
Den Wechsel von Hell und Dunkel haben wir eurem Organismus
angepaßt, sechzehn Stunden Licht und acht Stunden Dunkelheit. Das hatten ihnen diese Geds gesagt. Drei Augen hatten sie. Und
sie hatten die Sonne bewegt.
Nein. Das war unmöglich. Die Geds mußten was anderes
gemacht haben. Aber was? Sie konnten doch keinen neuen Himmel gebaut
haben. Sie hatten unglaubliche Mauern und Wände gebaut –
aber einen Himmel?
Ayrid senkte den Kopf; ihr Nacken tat weh vom Emporstarren.
Empfindungen bahnten sich ihren Weg, wie träge Strömungen:
Ehrfurcht, Angst – und noch etwas Kleineres, etwas wie
Schadenfreude, wie Triumph. Delysia hatte sie in die Verbannung
geschickt, hatte ihr Embri entrissen, hatte ihr Leben zerstören
wollen; das Stadtgericht von Delysia hatte sich zum Werkzeug der
Angst gemacht, hatte seine Macht benutzt, um ihr Leben zu
zerstören. Aber die Macht von R’Frow stellte die von
Delysia in den Schatten, neben R’Frow glich die Stadt ihrer
Geburt einem Misthaufen. Delysia konnte verbannen – R’Frow
dagegen den Himmel erschaffen.
R’Frow sah nicht aus wie eine Stadt, jedenfalls nicht
für Ayrids Augen. Keine weißgetünchten Kuppelbauten,
die unter der Sonne gleißten. Keine hohen, schlanken Minarette
wie in Delysia. Keine Gärten, kein Marktplatz, kein Glashof,
keine Schmiede, keine Gerberei, kein Exerzierplatz. Statt dessen
fühlte sie sich eher in die Savanne zurückversetzt –
aber eine, die vermessen und gezähmt und umfriedet war.
Die Graue Mauer umschloß eine Wildnis. R’Frow
war dicht mit Bäumen und anderen Pflanzen bewachsen, alles wuchs
wild durcheinander, dazwischen Flüsse und mächtige
Felsbuckel. Von ihrem Standort an der östlichen Mauer aus konnte
Ayrid Haine sehen, deren Bäume viele Jahre gebraucht haben
mußten, um so heranzuwachsen. Zwischen den Gehölzen
wucherte Gestrüpp, taten sich Lichtungen auf mit hüfthohem
Gras, wuchsen Sträucher und drängten sich Büsche. Aber
das sah nicht so aus wie in der Savanne. Es gab zwar Dornbüsche,
aber keine Kemburis; Wildblumen, aber keine Giftstachel; Bäume
mit langen, gefiederten Zweigen, die bis auf den Boden hingen, aber
nichts mit einer Art Mundöffnung und einem dicken, klebrigen
Wulst ringsum, der sich hob und senkte. Der Fluß zu ihrer
Rechten floß rasch und klar dahin: zu rasch bei dem ebenen
Grund, zu klar bei dem Mergel flußaufwärts.
Eine Brise regte sich; die Luft roch so gut und so frisch, als sei
sie eben aus dem gleichen seltsamen Schlaf erwacht wie Ayrid.
R’Frow strotzte vor Grün, das so sauber war wie nach einem
kräftigen Regen, und es sah so aus, als ob die Mauern ringsum es
nur mühsam bändigen könnten. Und es gab nicht nur
Pflanzen hier: Ayrid bemerkte, wie Bewegung in die Grashalme kam, als
irgend etwas, aufgescheucht durch vorbeidrängelnde Delysier, in
den Schutz der dichten Dornbüsche floh. Aber diese Vegetation
wogte und krabbelte nicht wie üblich, um sich auf
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