Fremdes Licht
immer noch fort.
Weil du in R’Frow bist, sagte die dunkle Stimme, und
sie redete auf einmal mitten in SaSas Kopf. R’Frow ist nicht
Jela; die dreiäugigen Monster, die hier das Sagen haben, sind
keine Bruderkrieger; du brauchst hier nicht die Beine breitzumachen,
damit du zu essen hast; du könntest, wenn du wolltest, die
Tür so zumachen, daß…
»Aufhören!« schrie SaSa laut. »Aufhören!
Ich kann nicht! Ich kann nicht!«
Niemand hörte sie. Die fremdartigen Metallwände
verschluckten jeden Laut zwischen den Quartieren. Und die dunkle,
pelzige Stimme gab keine Antwort.
14
In den Hohlräumen der äußeren Stadtmauer grollte
die samtweiche Stimme des Bibliothekshirns und trug mit lapidarer
Sachlichkeit empirische Fakten vor:
»Aktive Beteiligung an der reinen Wissensvermittlung, wobei sogar eine Frage gestellt wurde: einhunderteinundzwanzig
Menschen. Aktive Beteiligung bei der Wissensprüfung: zweiundsiebzig Menschen. Aktive Beteiligung bei der Vermittlung von Herstellungsverfahren: neununddreißig
Menschen. Aktive Beteiligung beim Waffenunterricht: fünfhundertvierunddreißig Menschen. Fragen oder
Äußerungen, die auf einen Bedarf nach Harmonielehre schließen lassen: keine.«
Der Raum roch nach Konfusion und Konzentration. Alle achtzehn
Geds, so dicht beieinander wie irgend möglich, hatten über
den bestürzenden Bericht der Sonde nachgedacht, die man zu der
anderen Landmasse geschickt hatte. Dort lebte eine Menschengruppe,
die mindestens, zur Hälfte genetisch deformiert war. Kinder ohne
Arme; Ausgewachsene, die blind waren; ein sabberndes Etwas ohne Alter
und Verstand, das längst jemand zur Paarung mit den Toten
hätte schicken müssen. Menschenwesen – aber nicht
genug, um sich bei dieser Mutabilität über so viele
Generationen hinweg reproduzieren zu können. Bei weitem nicht
genug, um einen Genpool zu bilden. Erschütternd das Bild, wie
sie von der Sonde fortgekrabbelt waren, und dann…
…Standbild! Tagelang hatte das Bibliothekshirn nur dieses
eine starre Bild empfangen, bis die Sonde plötzlich
weitergesendet hatte. Sie schwebte ein gutes Stück über dem
Boden und zeigte das Wrack eines zerschellten Menschenschiffs, dessen
Innereien zum größten Teil verwittert und zerfallen waren.
Doch in gewissen Intervallen jagte der Interstellarantrieb immer noch
Schauer von Radioaktivität und Stasis über die Insel der
Toten.
»Wie lange?« hatte Kagar gefragt und den Raum mit
Skepsis geschwängert. »Dazu müßte man die Dauer
jeder einzelnen Stasisperiode kennen.«
Doch das war ein Ding der Unmöglichkeit. Die Sonde hatte noch
eine Weile gesendet, und dann war sie wieder erstarrt und
übermittelte seither ein Standbild:
Ein uraltes Menschenwesen, ein Gesicht aus Kratern und Schluchten,
fast zugewachsen mit grauem Haar. Die Symbole auf der zerlumpten
Uniform hatte man mit Hilfe des Bibliothekshirns identifiziert. Sie
waren auf der Hülle einiger Menschenschiffe gesichtet worden,
und zwar in jenem Augenblick zwischen dem Auftauchen eines Gedschiffs
in der Raumzeit und dem Eröffnen des Feuers: eine Mondsichel mit
Sternen über einer Doppelhelix. Der Mensch stierte direkt in die
Optik der Sonde. Seine welken Hände, in der Stasis gefangen,
hingen schreckgespreizt vor einem kleinen grünen Bildschirm, auf
dem noch mehr Symbole leuchteten.
»Wie lange?« hatte Grax wiederholt. »Der
Riese ohne Farbpigment muß zwischen den Stasisperioden
aufgewachsen sein – aber wieviel hiesige Menschengenerationen
hat das gedauert?«
Sie hatten keine Antwort auf ihre Fragen gefunden.
Und jetzt grollte das Bibliothekshirn wieder und trug mit
lapidarer Sachlichkeit andere empirische Fakten vor:
»Zweihundertsiebenundsechzig Menschen blieben in ihren
Schlafräumen allein. Dreihundertvierunddreißig verbrachten
mindestens einen Teil der Dunkelperiode mit einem anderen Menschen.
Davon zeigten zweihundertachtzig Paarungsverhalten – wobei es zu
zweihundertsechzehn ungleichen, zwei männlichen und
zweiundsechzig weiblichen Gesellungen kam.
Es kam nicht zu Gruppenpaarungen und folglich auch nicht zu
anderen Varianten der Harmonie.«
Die Geds sahen einander an. Ihre Pheromone verströmten
Bestürzung und Abscheu. Mathematische Intelligenz – und
keine Gruppenpaarungen. Kein Trieb, der sie zusammenführte, um
einander Stärkung und Trost und Einhelligkeit zu spenden, und
das bei einer Umgebung, die für die Menschenwesen gänzlich
fremd und verwirrend sein mußte. Nur zu zweit.
»Einundvierzig Paare
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