French 75: Ein Rostock-Krimi
Frühlingsjacken an die Garderobenhaken. Die meisten von ihnen gingen zuerst zu den Kaffeemaschinen, einige wenige zu den Zimmerpflanzen. In der obersten Etage waren die Angestellten und Abteilungsleiter schon mit den Telefonen verbunden.
Pawel sah eine Elster, die immer wieder gegen die Glasfassade flog, ehe sie schließlich auf den Bordstein fiel. Er ging zu dem Vogel, der an seiner Gier gestorben war, hob ihn auf und warf ihn in den Mülleimer der Straßenbahnstation. Das sollte mit ihm nicht passieren. Er wollte sich nicht dermaßen verrennen oder von der Belohnung verblenden lassen. Pawel Höchst wollte sich das Genick nicht brechen. Denk immer an die Elster! , dachte er. Vergiss die Elster nicht.
Doch dann entspannte er sich und dachte an seinen Vorsprung. Zufrieden winkte er ein Taxi heran. Seine Vermutung hatte sich als richtig erwiesen. Endlich wusste Pawel, wo er den Hebel ansetzen musste, um das Versteck des Serientäters aufzustemmen: Es gab keine Prospekte und keine Fragelisten von einem Verein gegen Gewalt an Kindern. Das war also nur ein Vorwand gewesen. Eine Lüge, um an die Adresse zu kommen! Wie er es ja schon geahnt hatte. Er hatte alles andere logisch ausgeschlossen und übrig geblieben war ein Indiz in Form eines großen Nichts. Jetzt musste er es zu einem Beweis machen, zum ersten echten Beweis.
Privatdetektiv Pawel Höchst ließ sich sofort ins Büro fahren, seinen Peugeot wollte er später holen.
XXII
Der Hausmeister hatte ganze Arbeit geleistet. Die neue Bürotür sah nicht nur besser aus, sie war auch sicherer. »Eine echte Stahltür für einen richtigen Privatdetektiv«, hatte der Mann zu Pawel gesagt, als er ihm die neuen Schlüssel übergeben hatte.
Pawel musste ab jetzt zwei Sicherheitsschlösser aufschließen, und er fragte sich, wie lange er das wohl durchhalten würde. Er schloss die Tür von innen und öffnete erst einmal das Fenster.
»Ich kriege dich!«, flüsterte er. »Ich weiß, dass du ein verdammter Callcenter-Agent bist. So kommst du an deine Opfer! Du findest sie zufällig, das ist deine Deckung. Wenn du jedoch die passende Frau gefunden hast, dann greifst du sie dir. Du bist garantiert ein sympathischer Typ, du suchst nicht, du wartest einfach. Du weißt, dass die Leute zu dir kommen, du bist es gewohnt, dass die Menschen zu dir kommen. Daher gibt es auch keine Spuren deiner Suche, aber ich werde dich trotzdem finden. Du arbeitest in einem Callcenter. Das ist nur der erste Kreis, den ich um dich ziehe, die anderen werden nicht so weit sein.«
Wieder hörte der Privatdetektiv sich den kostbaren Telefonmitschnitt an, diesmal aber nicht fragend, sondern wissend. Er verband das Diktiergerät anschließend mit seinem PC und überspielte die Sequenz.
Zu lange hatte er auf den Trawlern unter Männern gelebt, um irgendetwas nicht zu verstehen, was sie taten. Er kannte ihr Denken, das den Taten bekanntlich vorausging. Immer wieder hörte er der fremden Stimme zu und machte sich Stichpunkt um Stichpunkt.
Wie raubte man einem Angler die Ruhe? Man baute sich direkt neben ihm auf und hielt auch eine Angel ins Wasser. Man sagte nichts und sah nur auf die undurchdringliche Tiefe. Doch wie nebenbei kam man Schrittchen um Schrittchen näher an ihn heran. Das machte ihn nervös, denn gerade davor war er geflüchtet. Er wollte keine Nähe. Er wollte Abstand. Diesen Abstand musste man ihm nur nehmen. Angler waren keine Männer, die gerne redeten oder die sich gerne stritten.
Dieser Angler am Telefon musste also ein Mann sein, der einem Streit lieber aus dem Weg ging. Pawel schrieb als neues Stichwort unter die anderen: harmoniebedürftig.
Er könnte jetzt eigentlich alle Frauen warnen. Würden sie von Unbekannten angerufen, müssten sie einen Streit vom Zaun brechen, um zu überleben. Aber wie sollte man Millionen von Menschen warnen?
Pawel erkannte, dass er von der Auswahl der Opfer nicht auf den Täter schließen konnte. Das war die Sackgasse, in die die Polizei geraten war. Die Auswahl war zufällig, sie wies nur vier oder fünf Gemeinsamkeiten auf. Einen dieser Punkte kannte Pawel Höchst: allein lebende Frauen.
Noch einmal hörte er dem Killer zu und vervollständigte seine Liste:
Keinen Dialekt, keinen Akzent.
Zwischen fünfundzwanzig und fünfunddreißig.
Keine Fremdwörter.
Durchschnittsmensch.
Kommunikativ.
Harmoniebedürftig.
Schuhgröße dreiundvierzig.
Pawel sah sich den ersten Entwurf an. Es war keine besonders lange Liste, und wenn er ehrlich war, war
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