French, Tana
vielleicht zu Kevins Totenfeier
hätte mitnehmen sollen, selbst angesichts Dads Beitrag zu der Veranstaltung.
Die
Vorstellung, in einem Raum mit Shay zu sein und ihn nicht zu einem einzigen
blutigen Brei schlagen zu können, machte mich ganz benommen. Ich dachte daran,
dass ich ein unreifer Junge gewesen war und in gewaltigen schwindelerregenden
Sprüngen erwachsen wurde, weil Rosie das brauchte, und daran, dass Dad mir
gesagt hatte, ein Mann müsse wissen, wofür er zu sterben bereit sei. Du tust,
was deine Frau oder dein Kind braucht, selbst wenn es dir sehr viel schwerer
vorkommt, als zu sterben.
»Weißt du
was?«, sagte ich. »Sonntagnachmittag gehen wir deine Nana besuchen, wenn auch
vielleicht nur kurz. Da wird bestimmt viel über deinen Onkel Kevin geredet,
aber ich garantiere dir, dass jeder seine eigene Art hat, damit umzugehen: Sie
werden nicht die ganze Zeit in Tränen aufgelöst sein, und sie werden nicht
denken, du benimmst dich falsch, wenn du gar nicht weinst. Meinst du, das würde
dir helfen, besser damit klarzukommen?«
Das
munterte Holly auf. Plötzlich sah sie nicht mehr nur Clara an, sondern mich.
»Ja. Wahrscheinlich.«
»Na denn«,
sagte ich. Bei der Vorstellung lief es mir wie Eiswasser über den Rücken, aber
ich würde es einfach aushalten müssen wie ein großer Junge. »Abgemacht.«
»Ehrlich?
Versprochen?«
»Ja. Ich
ruf gleich deine Tante Jackie an, dass sie Nana Bescheid sagen soll, dass wir
kommen.«
Holly
sagte mit einem weiteren tiefen Seufzer: »Gut.« Diesmal spürte ich, wie sich
ihre Schultern entspannten.
»Und bis
dahin sieht bestimmt alles schon ein bisschen besser aus, wenn du erst mal
eine Nacht gut und fest geschlafen hast. Licht aus.«
Sie
rutschte runter, bis sie auf dem Rücken lag, und drückte sich Clara unters
Kinn. »Deck mich schön zu.«
Ich
stopfte die Decke rund um sie fest, aber nicht zu fest. »Und keine Albträume
heute Nacht, okay, Häschen? Erlaubt sind nur schöne Träume. Das ist ein
Befehl.«
»Okay.«
Ihr fielen schon die Augen zu, und ihre Finger lösten sich aus Claras Mähne.
»Schlaf gut, Daddy.«
»Schlaf
schön, Kleines.«
Ich hätte
es längst vorher merken müssen. Ich hatte es nun bereits fast fünfzehn Jahre
geschafft, meine Jungs und Mädels und mich selbst am Leben zu halten, indem ich
nicht ein einziges Mal irgendwelche verräterischen Anzeichen übersah: den
beißenden Geruch nach verbranntem Papier, wenn du in ein Zimmer kamst, den
kruden animalischen Unterton in einer Stimme bei einem vermeintlich banalen
Telefongespräch. Es war schon schlimm genug, dass ich sie irgendwie bei Kevin
übersehen hatte, aber ich hätte sie niemals, nicht in einer Million Jahre, bei
Holly übersehen dürfen. Ich hätte sehen müssen, dass etwas die Stofftiere
umflackerte wie Wetterleuchten und das gemütliche kleine Schlafzimmer erfüllte
wie Giftgas: Gefahr.
Stattdessen
stand ich leise vom Bett auf, knipste die Lampe aus und stellte Hollys Tasche
beiseite, damit sie das Nachtlicht nicht verdunkelte. Sie hob mir das Gesicht
entgegen und murmelte irgendetwas. Ich beugte mich runter, um sie auf die
Stirn zu küssen, und sie kuschelte sich tiefer in die Decke und atmete
zufrieden aus. Ich sah sie lange an, helles, auf dem Kissen verwirbeltes Haar
und Wimpern, die spitze Schatten auf ihre Wangen warfen, dann schlich ich aus
dem Zimmer und zog die Tür hinter mir zu.
20
jeder cop, der schon mal undercover gearbeitet hat, weiß,
dass nichts auf der Welt vergleichbar ist mit dem letzten Tag vor einem
Einsatz. Ich könnte mir vorstellen, dass Astronauten während des Countdowns das
Gefühl kennen, und Fallschirmspringer, die sich zum Absprung hinter die
feindlichen Linien bereit machen. Das Licht wird gleißend und hart wie
Diamanten, jedes Gesicht, das du siehst, ist so schön, dass es dir den Atem
verschlägt; dein Verstand arbeitet kristallklar, jede Sekunde breitet sich vor
dir aus wie eine große, flächige Landschaft, Dinge, die dich monatelang
verwirrt haben, findest du plötzlich vollkommen einleuchtend. Du könntest den
ganzen Tag trinken und wärst trotzdem stocknüchtern; kryptische
Kreuzworträtsel sind leicht wie Kinderpuzzle. Dieser Tag dauert hundert Jahre.
Es war
lange her, dass ich undercover gewesen war, aber ich erkannte das Gefühl
wieder, sobald ich am Samstagmorgen erwachte. Ich entdeckte es in den
schwankenden Schatten an meiner Schlafzimmerdecke und schmeckte es im Bodensatz
meines Kaffees. Langsam und unaufhaltsam,
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