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French, Tana

French, Tana

Titel: French, Tana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sterbenskalt
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die Weisheit noch nie mit Löffeln gefressen. Das Einzige, was ihm
einfiel, war die direkteste Lösung, Gott steh ihm bei, die ehrlichste, nämlich
mit dir zu reden, von Mann zu Mann, und sich anzuhören, was du zu sagen
hattest. Und als du ihm gesagt hast, er sollte sich mit dir in Nummer sechzehn
treffen, ist der arme Tropf schnurstracks reinmarschiert. Eins würde ich gern
wissen, denkst du, er wurde adoptiert? Oder war er bloß irgendeine irre
Mutation?«
    Shay
sagte: »Er war behütet. Das war er. Sein ganzes Leben lang.«
    »Aber
nicht letzten Sonntag. Letzten Sonntag war er verflucht angreifbar, und er
wähnte sich vollkommen sicher. Du hast ihm diesen ganzen selbstgerechten
Quatsch erzählt, von wegen Verantwortung gegenüber der Familie und eigene
Wohnung und so, alles, was du mir verklickert hast. Aber nichts davon hat Kevin
überzeugt. Er hat nur die Fakten verstanden, klar und einfach: Du hast Rosie
Daly getötet. Und damit kam er nicht klar. Was hat er gesagt, das dich dermaßen
in Rage gebracht hat? Hatte er vor, es mir zu erzählen, sobald er mich erreicht
hätte? Oder hast du gar nicht erst weiter gefragt, ehe du ihn auch noch
umgebracht hast?«
    Shay
rutschte auf seinem Stuhl hin und her, die unkontrollierte Bewegung eines
Menschen, der in der Falle sitzt, saß dann wieder still. Er sagte: »Du kapierst
überhaupt nichts, was? Keiner von euch hat je was kapiert.«
    »Dann sei
bitte so gut und klär mich auf. Fang am besten damit an, wie du ihn dazu
gebracht hast, den Kopf aus dem Fenster zu strecken. Das war ein netter kleiner
Trick. Würde mich wirklich interessieren, wie du das hingekriegt hast.«
    »Wer sagt
denn, dass ich das war?«
    »Komm
schon, Shay, raus mit der Sprache. Ich sterbe vor Neugier. Als du gehört hast,
wie sein Schädel aufplatzte, bist du da erst noch ein Weilchen oben geblieben
oder bist du gleich runter und hast ihm den Brief in die Tasche gesteckt? Hat
er sich noch bewegt, als du unten ankamst? Gestöhnt? Hat er dich erkannt? Hat
er um Hilfe gebettelt? Hast du da in dem Garten abgewartet, bis er tot war?«
    Shay saß
jetzt über den Tisch gebeugt, die Schultern hochgezogen und den Kopf gesenkt,
wie ein Mann, der gegen starken Wind ankämpft. Er sagte leise: »Nachdem du
abgehauen bist, hab ich zweiundzwanzig Jahre gebraucht, um wieder eine Chance
zu kriegen. Zweiundzwanzig verdammte Jahre. Kannst du
dir vorstellen, wie die waren? Ihr vier wart alle auf und davon, habt euch in
eurem Leben eingerichtet, habt geheiratet, Kinder gekriegt, wie ganz normale
Leute, rundum zufrieden. Und ich hier, hier, in diesem beschissenen Haus -« Sein Kiefer mahlte, und sein Finger pochte wieder und wieder
auf die Tischplatte. »Ich hätte das auch alles haben können. Ich hätte -«
    Er fand
die Beherrschung einigermaßen wieder, atmete mit einem tiefen Röcheln ein und
zog gierig an seiner Zigarette. Seine Hände zitterten.
    »Jetzt
habe ich wieder eine Chance. Es ist nicht zu spät dafür. Ich bin noch jung
genug. Ich kann den Fahrradladen in Schwung bringen, eine Wohnung kaufen, eine
Familie gründen - die Frauen stehen immer noch auf mich. Keiner wird mir diese
Chance nehmen. Keiner. Diesmal nicht. Nicht noch einmal.«

Ich sagte:
»Und Kevin hatte das vor.« Wieder ein Einatmen, wie ein fauchendes Tier. »Jedes
verdammte Mal, wenn ich nah dran bin, hier rauszukommen, so nah, dass ich es
schon schmecken kann, hält mich einer von meinen Brüdern hier fest. Ich hab
versucht, ihm das zu erklären. Er hat's nicht begriffen. Dieser dämliche
Trottel, dieser verwöhnte Junge, dem immer alles in den Schoß gefallen ist,
der hatte doch keine Ahnung —« Er
brach mitten im Satz ab, schüttelte den Kopf und quetschte wütend seine
Zigarette aus.
    Ich sagte:
»Es ist also einfach passiert. Wieder einmal. Du bist echt ein Pechvogel, was?«
    »Dumm
gelaufen.«
    »Kann
sein. Vielleicht würde ich dir das sogar abkaufen, wenn da nicht eine
Kleinigkeit wäre: der Brief. Der ist dir nicht ganz plötzlich in den Sinn
gekommen, nachdem Kevin aus dem Fenster gestürzt war: Mensch, da fällt mir ein,
dieses Blatt Papier, das ich zweiundzwanzig Jahre lang verwahrt habe, könnte
doch jetzt ganz nützlich sein. Du bist nicht nach Hause getrabt, um es zu
holen, auf das Risiko hin, dass irgendjemand sieht, wie du aus Nummer sechzehn
kommst oder wieder reingehst. Den hattest du schon mit. Du hattest die ganze
Sache geplant.«
    Shays
Augen hoben sich, und als sie meinen Blick erwiderten, waren sie
elektrisierend

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