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French, Tana

French, Tana

Titel: French, Tana Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sterbenskalt
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mitten in der Nacht, das
Klopfen an meiner Bürotür. Ich stellte mir vor, wie wir beide Seite an Seite
auf einer Bank in irgendeinem grünen Park saßen, wo wir in bittersüßem
Schweigen zusahen, wie Holly mit zwei kleinen rothaarigen Jungen auf einem
Klettergerüst herumturnte. Ich stellte mir einen endlosen Abend in irgendeinem
schummrigen Pub vor, wie sich unsere Köpfe näher und näher zueinanderbeugten,
während wir redeten und lachten und es immer später wurde, unsere Finger auf
dem abgenutzten Holz des Tisches aufeinander zuglitten. Ich stellte mir ganz
genau vor, wie sie jetzt aussehen würde: die Krähenfüße von all dem Lächeln,
das ich nicht gesehen hatte, die Weichheit ihres Bauches von Kindern, die
nicht meine waren, ihr ganzes Leben, das mir entgangen war, in Braille-Schrift
auf ihrem Körper, von meinen Händen gelesen. Ich stellte mir vor, wie sie mir
Antworten gab, an die ich nie gedacht hatte, Antworten, die alles erklären
würden, jedes scharfkantige Puzzleteilchen glatt an der richtigen Stelle
einfügten. Ob Sie es glauben oder nicht, ich stellte mir eine zweite Chance
vor.
    Aber in
anderen Nächten wünschte ich mir selbst nach all den Jahren noch das Gleiche
wie damals, als ich zwanzig war: dass sie als Opfer in einer Akte vom Dezernat
für häusliche Gewalt auftauchte, in einer Akte von der Sitte als Prostituierte
mit HIV, als Rauschgifttote in einer Leichenhalle in einem verrufenen Viertel
Londons. Im Laufe der Jahre hatte ich die Beschreibungen von Hunderten
unidentifizierter Frauenleichen gelesen.
    Alle meine
Orientierungspunkte waren in einer einzigen blendenden, schwindelerregenden
Explosion in die Luft geflogen: meine zweiten Chancen, meine Rache, meine
schöne, unüberwindliche Anti-Familie-Maginotlinie. Dass Rosie Daly mich
abserviert hatte, war mein Meilenstein gewesen, riesig und massig wie ein Berg.
Jetzt flimmerte er wie eine Fata Morgana, und die Landschaft ringsherum
veränderte sich ständig, stülpte sich nach außen und wieder zurück; nichts
davon kam mir mehr bekannt vor.
    Ich
bestellte noch ein Bier, dazu einen doppelten Jameson, was, soweit ich das
abschätzen konnte, meine einzige Chance war, die Nacht zu überstehen. Mir fiel
absolut nichts anderes ein, was das Bild in meinem Kopf löschen würde, diesen
Albtraum aus schmierigen, braunen Knochen, zusammengerollt in seinem Loch, wo
Erde auf ihn rieselte und dabei ein Geräusch machte wie winzige trippelnde
Füße.
     
    7
     
    sie legten ein zartgefühl an den Tag, mit dem ich nicht
gerechnet hätte, und gönnten mir zwei Stunden für mich allein, ehe sie mich
suchen kamen. Kevin tauchte als Erster auf: Er schob den Kopf zur Tür herein
wie ein Kind beim Versteckspiel, verschickte rasch eine heimliche SMS, während
der Barmann ihm ein Bier zapfte, und trat dann nervös neben meinem Tisch von
einem Bein aufs andere, bis ich ihn von seinen Qualen erlöste und ihm bedeutete,
sich hinzusetzen. Wir sprachen kein Wort. Es dauerte rund drei Minuten, bis
die Mädchen eintrudelten, Regen von den Mänteln schüttelten und kicherten und
sich unauffällig im Pub umschauten. »Jesses«, sagte Jackie in einer Lautstärke,
die sie für Flüstern hielt, während sie sich den Schal abzog, »ich weiß noch,
wie verrückt wir früher drauf waren, hier reinzudürfen, nur weil keine Frauen
erlaubt waren. Wir haben nix verpasst, was?«
    Carmel
beäugte argwöhnisch den Sitz und wischte ihn rasch mit einem Papiertaschentuch
ab, ehe sie sich setzte. »Gott sei Dank ist Mammy doch nicht mitgekommen. In
dem Laden hier würde sie eine Herzattacke kriegen.«
    »Was?«,
sagte Kevin und hob ruckartig den Kopf. »Ma wollte
mitkommen?«
    »Sie macht
sich Sorgen um Francis.«
    »Die kann
es nicht erwarten, ihn auszuhorchen, würde ich eher tippen. Sie ist euch doch
hoffentlich nicht heimlich gefolgt, oder?«
    »Zutrauen
würd ich's ihr«, sagte Jackie. »Geheimagentin Ma.«
    »Macht sie
nicht. Ich hab ihr gesagt, du wärst nach Hause gefahren«, sagte Carmel zu mir,
die Fingerspitzen an den Lippen, eine Mischung aus Schuldgefühl und
Schadenfreude. »Gott vergebe mir.«
    »Du bist
ein Genie«, sagte Kevin aufrichtig und ließ sich nach hinten gegen die Lehne
sinken.
    »Er hat
recht. Sie hätte uns alle nur kirre gemacht.« Jackie reckte den Hals,
versuchte, den Barmann auf sich aufmerksam zu machen. »Werde ich hier
vielleicht auch mal bedient?«
    »Ich geh
schon«, sagte Kevin. »Was wollt ihr trinken?«
    »Hol uns
einen Gin-Tonic.«
    Carmel

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