Frettnapf: Roman
zeigt mir sogar, dass mein Kastrator erwachsen geworden ist und er ihn aus dem Stall heben und streicheln kann, ohne Angst vor Bissen zu haben.
Das verdammte Handy spielt also Erik Satie (nicht das Lied aus der Bierwerbung!), dazu steht im Display eine Nummer, die mir vage bekannt vorkommt. Wegdrücken. Drei Nanosekunden später erinnere ich mich daran, die Nummer mit einer anderen Endung schon mal gewählt zu haben. Das war Jerry. Vielleicht sitzt er gerade im Sender und fragt sich, wo ich stecke. Dann kommt eine SMS an, die mir fast die Augen aus dem Kopf treten lässt: » Markus ist krank. Vertraue, dass du ordentlich geübt hast. 20Uhr on air! Jerry«
Mein Puls rast los, das Adrenalin kickt mich in den Magen, das kann nicht wahr sein. Ich habe vier Abende in Folge Mist gebaut und mich nicht in den Sender bewegt, vier Möglichkeiten verspielt, mich auf den heutigen Abend vorzubereiten. Ich habe die einzigen vier Proben für die große Show, die Chance meines Lebens, ausfallen lassen. Nach und nach begreife ich, wie unfair es ist, ich sein zu müssen. Die Einführung in die Studiotechnik habe ich zu locker genommen und in meiner Überzeugung, so oder so niemals in die nun eingetretene Situation zu kommen, praktisch schon wieder vergessen. Wenigstens hat sich seit den Neunzigern nicht allzu viel geändert: Man zieht das Mikro auf, sprich, feuert den nächsten Song ab und zieht den entsprechenden Regler hoch, während man den fürs Mikro wieder runterzieht.
Trotzdem verharre ich erst mal eine Minute in einer Mischung aus Fatalismus und Schockstarre. Dann antworte ich in einem Anflug von kurzfristigem Optimismus: » Alles bene, werde den Abend schon rocken!«
Fünf Minuten später sitze ich in einem Taxi (Sven wollte mir partout nicht Hondos Fahrrad leihen), und wenn der Fahrer kein Abzocker ist, sollte ich in einer Viertelstunde im Sender sein, was mir noch eine satte halbe Stunde für die Vorbereitung der Show lassen würde. Es dürfte nicht schwer sein, eine musiklastige Partysendung zu überstehen, da es bestimmt niemandem auffällt, wenn ich mich auf das Ansagen der Titel und ein gelegentliches » Hier rockt die Party« beschränke. Obwohl ich nicht sicher bin, dass ich mit dem Satz das richtige Jahrzehnt treffe. Überhaupt komme ich mir plötzlich extrem albern vor, mit bald neununddreißig noch mal beim Radio durchstarten zu wollen. Im Speziellen bei einem Sender, dessen Zielgruppe ich mit meinem übernächsten Geburtstag verlassen werde. Und da meine einigermaßen zuverlässig funktionierende Selbsteinschätzung mir nur eine Chance von einem Viertelprozent einräumt, heute eine gute Sendung aus dem Nichts zu zaubern, kommt mir plötzlich eine Idee. Sie kommt ebenfalls aus dem Nichts, ist aber verdammt gut. Ich zücke mein Telefon und schreibe eine SMS , was sich im Taxi als eine Herausforderung herausstellt, die eines Auftritts in » Wetten dass…?« würdig wäre, vor allem, da mein iPhone mir ständig falsche Worte vorschlägt (Hurra– Hure), die ich umständlich wegpatschen muss. Am Ende steht jedoch eine klare Botschaft auf dem Display: » 20 Uhr, Hip FM , Dein Kai Pflaume!«
Jessi wird einschalten. Sie sitzt garantiert zu Hause, verflucht mich und jede Sekunde, die sie mit mir vergeudet hat, und ich kann nicht mal behaupten, dass sie das zu Unrecht macht. Vielleicht trinkt sie einen Tee und sieht fern, wahrscheinlicher ist jedoch, dass sie einfach nur aus dem Fenster blickt, einer einsamen Geburt und schweren Zukunft als alleinerziehende Mutter entgegen.
Sie hat mich gezwungen, Sendungen im Fernsehen anzuschauen, in denen der Schmerz, den sie gerade empfindet, die wertlose Zeit zwischen den Werbepausen füllt. Sie hat mir gestanden, dass sie » Nur die Liebe zählt« und Ähnliches unmöglich ansehen kann, ohne zu weinen. Sie ist die Erste, die flennt, wenn irgendwer versucht, auf die billige Tour emotionale Reaktionen zu ernten. Der Höhepunkt war eine Werbung, in der ein Jeep wie ein auszuwilderndes Raubtier in der Wüste von einem Truck geladen und von seinen Pflegern weggescheucht wurde, um schließlich mit anderen seinesgleichen durch die Dünen zu brettern. Nicht nur die Darsteller in dem Spot hatten vor Freude, dass er ein paar Artgenossen gefunden hat, Tränen in den Augen, auch Jessi wischte sich mit ihrem Ärmel über die Wangen.
Ich werde ihr gleich auf Hip FM meine Liebe gestehen und ihr alles sagen, was ich noch zu sagen habe. Ich werde jeden dämlichen Film alt aussehen lassen, all
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