Freu dich des Lebens
verstehen, dass Präsident Hardings Tod auf den Kummer und die Enttäuschung darüber zurückzuführen war, dass ein Freund ihn hintergangen hatte. Als Mrs. Fall diese Worte hörte, sprang sie vom Stuhl hoch, weinte, ballte die Fäuste und schrie:
»Was? Harding soll von Fall hintergangen worden sein? Niemals! Mein Mann hat nie einen Menschen hintergangen. Ein ganzes Haus voll Gold könnte ihn nicht dazu verleiten, ein Unrecht zu tun. Er ist derjenige, der hintergangen und ans Kreuz geschlagen wurde.«
Da haben wir es wieder! So ist die menschliche Natur: Jeder ist im Unrecht, nur nicht der Missetäter selbst. Wir machen es alle genauso. Denken Sie deshalb an Al Capone, »Doppelschuss«-Crowley und Albert Fall, wenn Sie morgen Lust verspüren, jemanden zu kritisieren. Vergessen Sie nicht: Vorwürfe sind wie Brieftauben, sie kehren immer wieder in den eigenen Schlag zurück. Seien wir uns darüber im klaren, dass ein Mensch, den wir tadeln, sich womöglich rechtfertigen wird und uns seinerseits verurteilt. Oder dass er es hält wie der sanftmütige Taft und erklärt: »Ich sehe nicht, wie ich hätte anders handeln können.«
Am Morgen des 15. April 1865 lag Abraham Lincoln sterbend im Bett eines billigen Gasthauses direkt gegenüber dem Ford’s Theater, wo John Wilkes Booth ihn angeschossen hatte. Er lag diagonal auf einem durchhängenden Bett ausgestreckt, das für seinen langen Körper viel zu kurz war. In einer trüben Gaslampe flackerte ein gelbes Licht. Kriegsminister Stanton stand neben dem Bett, betrachtete den sterbenden Lincoln und sagte: »Hier liegt der vollkommenste Menschenführer, den die Welt je gesehen hat.«
Worin lag Lincolns Geheimnis im Umgang mit Menschen? Ich habe zehn Jahre damit zugebracht, Abraham Lincolns Leben zu studieren, und mich drei Jahre abgemüht, ein Buch über den ›unbekannten Lincoln‹ zu schreiben. Ich habe mich sicher so ausführlich und eingehend mit Lincolns Persönlichkeit und seinem Privatleben beschäftigt wie nur irgend jemand. In erster Linie hat mich seine Methode im Umgang mit Menschen interes siert. Neigte er zu Kritik? Sicherlich. Als junger Mann hat er die Leute nicht nur kritisiert, sondern sich in Briefen und Gedichten über sie lustig gemacht und diese Pamphlete auf der Landstraße deponiert, wo er sicher war, dass sie gefunden wurden. Einer dieser Briefe erregte eine Verstimmung, die sich ein Leben lang nicht mehr ausbügeln ließ.
Selbst als Lincoln in Springfield, Illinois, als Anwalt praktizierte, griff er seine Gegner in öffentlichen Briefen in der Zeitung an. Einmal hätte er dies allerdings besser unterlassen.
Im Herbst 1842 verulkte er einen eingebildeten, streitsüchtigen Politiker namens James Shields. Lincoln verspottete ihn in einem anonymen Brief im Springfield Journal. Die ganze Stadt brüllte vor Lachen. Der empfindliche und stolze Shields jedoch kochte vor Wut. Er bekam heraus, wer den Brief geschrieben hatte, warf sich aufs Pferd, ritt zu Lincoln und forderte ihn zum Duell. Lincoln verspürte keine Lust, sich zu schlagen - er war ein Gegner von Duellen -, aber es blieb ihm ganz einfach keine andere Möglichkeit, um sich aus der Affäre zu ziehen und seine Ehre zu retten. Die Wahl der Waffen fiel auf ihn, und da er lange Arme hatte, entschied er sich für Kavalleriesäbel und nahm Fechtunterricht bei einem Offizier.
Am festgesetzten Tag trafen sich die beiden Kontrahenten auf einer Sandbank des Mississippi, bereit, sich auf Tod und Leben zu schlagen. In letzter Minute jedoch griffen ihre Sekundanten ein und brachen den Kampf ab.
Das war eines der schlimmsten persönlichen Erlebnisse in Lincolns Leben. Es hat ihm eine unschätzbare Lektion im Umgang mit Menschen erteilt. Nie wieder schrieb er einen beleidigenden Brief. Nie wieder machte er andere lächerlich. Und von da an hat er auch fast nie mehr andere Menschen kritisiert.
Während des Bürgerkriegs setzte Lincoln einen General nach dem anderen an die Spitze der Armee am Potomac, und einer nach dem anderen versagte und trieb ihn buchstäblich zur Verzweiflung. Die halbe Nation raste gegen die unfähigen Heerführer. Lincoln jedoch handelte nach dem Prinzip: ›Allen zuliebe und niemandem zuleide‹, und verhielt sich ruhig. Eines seiner Lieblingszitate war:
»Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet!«
Wenn jemand sich zu harten Worten über die Südstaatler hinreißen ließ, gab Lincoln zurück: »Tadelt sie nicht. Unter ähnlichen Umständen wären wir auch nicht
Weitere Kostenlose Bücher