Freudsche Verbrechen. Ein Mira-Valensky-Krimi
fünf stand, vom rasenden Herz, von der Angst, einen Herzanfall oder einen Schlaganfall zu bekommen, von den verkrampften Beinen, den Schweißausbrüchen, dem Zähneklappern. Und davon, dass ich mich danach nicht einzuschlafen traute und so lange las, bis mir von selbst die Augen zufielen.
Er unterbrach mich kaum, stellte hie und da eine Zwischenfrage, nickte beinahe befriedigt und sagte dann: „Warum wollen Sie nicht sterben?“
Ich sah ihn fassungslos an. Damit hatte ich nun wirklich nicht gerechnet. „Weil ich leben will, natürlich, ich lebe gerne und es kommt mir absurd vor, sterben zu wollen. Und ich weiß nicht, was das mit meinem Herzrasen zu tun haben soll. Wenn ich sterbe, dann bin ich tot, das Leben ist aus, ich bin nicht mehr, kann nicht mehr …“
„Aber warum haben Sie diese Angst, zu sterben?“
„Hat die nicht jeder? Weil ich leben will. Entweder tot oder lebendig. Ich bin für lebendig.“
„Und trotzdem haben Sie diese Attacken.“
Ich sah ihn an. „Ja, aber … vielleicht kommen sie von der Wirbelsäule. Vieles kommt von der Wirbelsäule und als Journalistin sitze ich viel am Computer. Und ab und zu ist da auch so ein Schwindelgefühl dabei in der Nacht und ein Sausen in den Ohren.“
„Was Sie haben, hat nichts mit der Wirbelsäule zu tun. Es hat mit dem Leben und dem Tod zu tun und damit, dass Sie den Eindruck haben, dass etwas in ihrem Leben nicht stimmt. Natürlich ist es gut, noch ein paar physische Aspekte abzuklären, nur zur Vorsorge. Das Ergebnis erscheint mir ziemlich klar.“
Er beugte sich vor zu mir und legte seine gebräunten Unterarme auf den Schreibtisch. Woher hatte er schon im Frühling braune Unterarme?
„Sie leiden wahrscheinlich unter so genannten Panikattacken. Das ist viel weiter verbreitet, als man annehmen möchte. Es geht dabei auch um das Alleinsein.“
„Ich lebe tatsächlich allein. Zumindest meistens.“
„Das spielt keine Rolle. Jede und jeder kann sich allein fühlen. Das hat auch mit der Kindheit zu tun. Ob man Geborgenheit erlebt hat, das Gefühl, angenommen und geliebt zu werden. Sich verlassen zu können, sich fallen lassen zu können und aufgefangen zu werden. Vertrauen haben zu können.“
Ich weiß nicht, warum mir plötzlich nach Weinen zumute war.
„Es geht um das Nichts und Niemand. Wenn niemand und nichts da ist, dann können solche Attacken entstehen.“
Mir rannen ein paar Tränen über die Wange, ich konnte sie nicht stoppen. „Aber ich habe eine ganze Menge“, widersprach ich und wischte mir die Tränen energisch weg. „Eine ganze Menge Dinge, die mir Freude machen. Und ich habe Freunde. Viele.“
Er nickte und sagte sanft: „Es gibt eine Untersuchung über die Fischer in Grönland. Wenn sie auf das Meer hinausfahren und das Meer ist spiegelglatt und sie sind ganz allein, nur sie, nur sie und sonst nichts außer dem Meer, dann bekommen einige von ihnen solche Attacken.“
„Ich habe keine Angst, allein auf großen Plätzen zu sein.“ Das stimmte nicht ganz, fiel mir ein. Ab und zu hatte ich das Gefühl, dass jemand auf mich zielt, dass jemand in der nächsten Sekunde abdrücken und mich erschießen würde. Aber das hatte wohl mehr mit meinen Recherchen in Mordfällen zu tun als mit der Angst vor Einsamkeit. Besser, ihm das nicht zu erzählen. Überhaupt sollte ich mich langsam um meine eigentliche Mission kümmern.
„Was sind Sie, wenn Sie nicht arbeiten, keine Freunde treffen, gar nichts tun, gar nichts tun können? Was bleibt dann von Ihnen?“
„Ich bin gerne faul, ich lese, ich koche, ich …“
Er schüttelte den Kopf. „Nein, gar nichts: Was sind Sie, wenn Sie gar nichts tun? Nie mehr? Nicht bloß zur Erholung.“
Irritiert sah ich ihn an. „Ich verstehe die Frage nicht. Aber ich könnte dann immer noch denken und ich würde mir überlegen, wie ich mich mitteilen kann. Es gibt fast vollständig Gelähmte, die Bücher geschrieben haben. Wahrscheinlich würde ich etwas Ähnliches probieren.“
Er schüttelte wieder den Kopf. „Wenn Sie gar nichts tun.“
Stille.
„Was sollte dann noch sein? Dann wird niemand merken, dass ich da bin. Dann bin ich so gut wie tot“, sagte ich langsam.
„Dann“, erwiderte er milde, „sind immer noch Sie selbst da.“
Der rote Punkt auf dem Miró-Druck hinter seinem Schreibtisch begann zu tanzen. Ich konnte mich nicht mehr konzentrieren. Mir war schwindlig. Mein Herz klopfte heftig.
„Sie selbst.“
Ich versuchte mich zu fangen und ihn spöttisch anzusehen. „Das
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