Freudsche Verbrechen. Ein Mira-Valensky-Krimi
selbstbewusst loslassen, diese ganz leichte Verzögerung des Rhythmus in den Schritten, in der Melodie der Trompete, so als müsste man noch einen Sekundenbruchteil überlegen, vorfühlen, bis man wirklich den Schritt tat, den Ton setzte. An den Tischen entlang der kleinen Tanzfläche saßen nur mehr wenige Menschen. Ich erkannte einen alten Trompeter, der vor Jahrzehnten tatsächlich einmal beim Dizzy-Gillespie-Quartett gespielt hatte. Nach einem Schlaganfall durfte er nicht mehr blasen, aber zuhören konnte er. Die Sehnsucht im Raum war greifbar und bittersüß. Wahrscheinlich hatte ich schon zu viel getrunken.
Wir lehnten uns an die lange Theke, bestellten irischen Whiskey. Ich wurde erst aus meiner Stimmung gerissen, als mich ein Musikredakteur ansprach, den ich flüchtig kannte. „Nicht viel los hier, was?“
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Das knallgelbe Cocktailkleid von Gianni Versace bestach durch seine Schlichtheit, dies eine Folge der Extravaganz der Verarbeitung und der Linienführung.“ Ich fluchte, hackte in die Tastatur und baute den Satz um. Unsere Moderedakteurin mochte zwar etwas von Haute Couture verstehen – wobei ich mir da auch nicht ganz sicher war –, vom Schreiben verstand sie wenig. Es war Schwerarbeit, ihre Reportage von der Präsentation der Pariser Herbstkollektionen lesbar zu machen.
Sie stammte aus einer der altösterreichischen Adelsfamilien und das war auch ihr größter Vorzug: Selbst wenn es um die wirklich exklusiven Society-Events ging, bekam sie eine Einladung. In der Redaktion hatten wir sie noch selten zu Gesicht bekommen. Unser Adelsspross war dürr, schmallippig, einiges über vierzig und trug um den mageren Hals gerne mehrreihige Perlenketten. Die männlichen Redaktionskollegen witzelten darüber, was sie wohl in der Nacht mit ihren Perlen tat. Es war besser, ich würde die wenigen Fakten in ihrer Reportage überprüfen. Wer wann welche Modeschau mit welchen Models präsentiert hatte, musste auch in den Agenturmeldungen zu finden sein. Ich tippte Kennung und Passwort für meinen Online-Zugang zu den Nachrichtenagenturen ein. Eine Minute warten.
Die Schlagzeilen der letzten Stunden erschienen. Ich gab einige Suchbefehle ein und warf dabei einen Blick auf die neuesten Nachrichten. Ich sah noch einmal hin. Dann klickte ich mit zitternder Hand eine dieser Meldungen an und gab den Befehl zum Öffnen. Der Text erschien.
„Psychiater tot aufgefunden. Wie soeben aus der Wiener Sicherheitsdirektion verlautete, wurde der 37-jährige Facharzt für Psychiatrie und Neurologie Peter Z. heute Vormittag gegen elf Uhr tot in seiner Praxis gefunden. Hinweise auf die Todesursache gibt es keine, die Polizei kann zum jetzigen Zeitpunkt Fremdverschulden noch nicht ausschließen. Äußere Spuren einer Tathandlung waren jedoch nicht ersichtlich. Die zuständige Mordkommission rechnet im Laufe der nächsten Tage mit Untersuchungsergebnissen.“
Mit offenem Mund starrte ich auf den Bildschirm. Wie viele siebenunddreißigjährige Fachärzte für Psychiatrie mit dem Vornamen Peter und einem Nachnamen, der mit „Z“ begann, gab es in Wien? Von Ulrike hatte ich mittlerweile erfahren, dass der Psychiater älter war, als er jedenfalls für mich ausgesehen hatte. Exakt 37 Jahre alt. Ob Ulrike schon von seinem Tod wusste? Ich wollte nicht diejenige sein, die ihr davon berichten musste. Dafür war die Polizei zuständig. Sie hatten nicht zusammengelebt. Die Mordkommission würde kommen und sie ausfragen. Irgendwann. Zuerst war die junge Amerikanerin im Freud-Museum erwürgt worden und jetzt, einige Tage später, hatte man die einzige Person, zu der sie in Wien nachweislich Kontakt gehabt hatte, tot aufgefunden. Aber von diesem Zusammenhang hatten Zuckerbrots Leute keine Ahnung. Noch nicht. Hätte ich mit dem Psychiater nicht bloß über meine nächtlichen Zustände geredet, könnte er möglicherweise noch leben. Was hatte er gewusst? Hätten wir ihn gedrängt zur Polizei zu gehen, wäre er vielleicht nicht tot.
Keine äußeren Einwirkungen, war in der Meldung gestanden. Der Mann war jung, kräftig, sportlich, braun gebrannt. So jemand starb nicht einfach von heute auf morgen.
„Warum wollen Sie nicht sterben?“ Seine Worte, sie hallten mir im Kopf. Hatte er sterben wollen? Seine blauen Augen. Ich musste es Ulrike sagen. Noch nie hatte ich so etwas tun müssen. Ich konnte sie doch nicht einfach anrufen und dann sagen: „Hör einmal, dein Freund ist tot, aber nimm es nicht so tragisch, das Leben geht weiter und sie
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