Freunde müssen töten - Thriller (German Edition)
inhaliert und nie wieder losgelassen, so sehr liebte sie plötzlich dieses beschissene Leben.
„Das sind ja im schlimmsten Fall nicht mal mehr zwei Monate! Letztes Mal hat der Verlauf doch ganz positiv ausgesehen!“ Kim räusperte sich und unterdrückte den spontanen Drang, einfach loszuheulen. „Tun Sie doch etwas! Sie sind doch der beste Arzt in ganz Linz! Ich will, dass der Tumor verschwindet!“
„Ich bin kein Wunderheiler.“ Der Arzt räusperte sich verlegen, ehe er fortfuhr: „Leider hat die Ausdehnung des Tumors einen ungünstigen Verlauf genommen. Wie ich schon sagte, er nähert sich dem Koordinationszentrum und das heißt, dass Sie sich im ungünstigsten Fall bald nicht mehr bewegen können und später einfach aufhören zu atmen.“
„Was ist mit einer Operation?“, fragte Kim mit zittriger Stimme und vermied es, auf die Röntgenbilder zu blicken, die der Arzt jetzt eingehend betrachtete.
„Das ist bei diesem Tumor äußerst riskant.“ Der Neurologe schüttelte den Kopf und erklärte Kim langatmig und unverständlich, warum eine Operation mit großen Gefahren verbunden wäre. Doch Kim hörte nicht mehr zu, sondern stellte sich in absurd grellen Farben einen heißen Sommertag am Meer vor. Warum war sie nur in dieser beschissenen Nebelstadt geblieben?
„Nehmen Sie Ihre Medikamente auch regelmäßig?“, riss sie der Neurologe aus ihren Gedanken.
„Ja, natürlich nehme ich die Medikamente. Aber ich will nicht, dass man Fragen stellt und mich bemitleidet, wenn man das Mittel sieht.“ Sie fasste in die Untiefen ihrer großen Tasche und fischte einen kleinen grünen Jägermeister hervor. „Abends fülle ich das Mittel immer hier rein.“ Sie schüttelte das Fläschchen vor seinen Augen hin und her, schraubte es auf, schnappte es wie ein Hund mit den Zähnen, legte den Kopf in den Nacken, streckte die Arme waagrecht zur Seite und trank es in einem Zug leer.
„Die echten Jägermeistertrinker brauchen keine Arme. Ab und ex.“ Sie grinste breit, obwohl ihr überhaupt nicht zum Lachen zumute war und ihre grün gesprenkelten Augen wurden wieder nass, als sie in das ernste Gesicht des Arztes sah.
„Sie sind eine eigenartige Frau. Sie möchten lieber für eine Alkoholikerin gehalten werden, bevor Sie jemand wegen Ihrer Krankheit bemitleidet.“ Der Neurologe schüttelte irritiert den Kopf.
„Das ist eben meine Art, mit diesem Tumor fertig zu werden.“ Trotzig ließ Kim die leere Jägermeister-Flasche wieder in ihrer Tasche verschwinden. „Übrigens, ich habe den Tumor Samsa getauft, nach einer Erzählung von Kafka.“
„Das ist doch die Käfergeschichte?“
Kim nickte und der Neurologe atmete tief durch. Kim wusste, was jetzt kommen würde.
„Wollen Sie noch immer keine Chemotherapie? Das würde das Wachstum wahrscheinlich bremsen. Versuchen Sie doch eine Einheit“, sagte der Neurologe zögernd, denn auch er kannte schon die Antwort.
„Nein! Das brauchen wir nicht schon wieder durchzukauen! Meine Haare sind das Einzige, was bei mir noch intakt ist. Ich will nicht als Alien oder mit Perücke durch die Welt geistern.“ Sie schüttelte ihre dichte, dunkelblonde Mähne, schnappte ihre Tasche und verließ das Sprechzimmer.
Als die Tür der Ordination hinter ihr ins Schloss fiel, konnte Kim die Tränen nicht länger zurückhalten.
Dieser verdammte Tumor!
Schluchzend ließ sie sich auf die Treppenstufen sinken, wurde immer wieder von einem Heulkrampf geschüttelt. Wie zum Hohn hörte sie aus einem der oberen Stockwerke einen Song aus dem Radio. „Ich liebe dieses Leben“, trällerte die Sängerin, dann klingelte Kims Handy, aber sie ignorierte den Anruf.
Vielleicht sollte sie sich doch in die Arbeit stürzen, noch etwas Bleibendes hinterlassen, damit man sich an sie erinnerte, damit sie nicht einfach von diesem Planeten verschwand, ohne eine Spur und sei sie auch noch so gering. Jetzt wurde ihr mit einem Mal klar, dass sie niemanden hatte, der um sie trauern würde. Ihre Eltern waren längst gestorben und mit den wenigen Verwandten, die über ganz Europa verstreut waren, hatte sie so gut wie nie Kontakt. Ja, es sah ganz so aus, als würde Kim nach ihrem Tod vergessen werden.
Eine ganze Weile blieb Kim noch auf der Treppe sitzen, stützte das Kinn auf ihre Knie, versuchte den langsam wieder einsetzenden Kopfschmerz und das weiße Rauschen zu ignorieren, doch als das Störbild in ihrem Gesichtsfeld auftauchte, gab sie entnervt auf. Es war alles so sinnlos!
Sollen sie mich doch
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