Freunde müssen töten - Thriller (German Edition)
trat ihm ein Bild vor Augen: Er sah den Zubringer, dahinter den Pannenstreifen, wo gerade ein Wagen mit einem Defekt angehalten hatte und dessen Warnblinkanlage das gleichförmige Leuchten der Scheinwerfer jetzt mit einem orangen Zucken durchbrach.
Ja, mit einem Mal hatte er wieder dieses Bild vor Augen, aber nicht ein Bild aus den dunklen Kammern seines Bewusstseins, sondern ein Bild, das frisch war und in die Zukunft wies, ein Bild, das bald zu einem weiteren Geschenk für seinen Freund werden würde. Doch zunächst musste er seinen Freund darauf einstimmen, ihn sensibilisieren für sein kommendes großes Werk. Konzentriert griff er in seine Jackentasche, holte die ganz persönliche Einladung für seinen Freund heraus, legte sie auf das Fensterbrett: Die Einladung war schlicht, aber dennoch effektvoll.
Von diesem Ensemble machte er zwei Fotos mit seinem Handy, dann ließ er sich wieder von seiner Phantasie führen. Denn noch war er nicht am Ziel seiner Wünsche, noch hatte er die Person, die sein Freund geworden war, nicht in ihrer Gesamtheit erforscht, noch konnte er tiefer eindringen, in das Schlafzimmer huschen, eintauchen in eine Sphäre der Privatheit, in dieser intimen Stille versinken, wie es nur ganz engen Freunden gestattet ist.
Immer tiefer wühlte er sich in das Leben seines Freundes, strich mit der Hand über die Anzüge im Kasten, öffnete Schubladen, zog Boxershorts heraus, ließ sie durch seine Finger gleiten, zuerst langsam, dann schnell und immer schneller. Widerstrebend legte er sie wieder zurück und schloss die Schubladen.
Tock, tock, tock, klopfte das Blut hinter seinen Schläfen, während er sich umdrehte und auf das Bett starrte, das Bett seines Freundes, ungemacht, zerwühlt, ein intimer Moment. Er stieß sich von dem Kasten ab, zog seine Jacke aus und ließ sie zu Boden fallen. Ohne den Blick von dem Bett abzuwenden, streifte er sich die klobigen Stiefel von den Füßen. Dann ging er auf das Bett zu, strich mit seinen Handflächen über die Bettdecke und berührte mit den Fingern den Kopfpolster. Vorsichtig glitt er auf die Matratze, legte den Kopf auf den Polster, auf dem sein Freund noch am Morgen gelegen hatte. Unendlich gefühlvoll strich er mit seiner Zungenspitze über den Polster, drückte die Bettdecke fest zwischen die Beine, atmete schwer und keuchte. Tock, tock, tock, seine Schläfen pochten. Als sein Speichel auf den Stoff tropfte, hörte er einen Schlüssel im Schloss der Wohnungstür und alle Momente der Verbundenheit verpufften wie ein bengalisches Feuer. Übrig blieb nur dieses schale Gefühl von Schuld und folgender Bestrafung. Er rollte sich blitzschnell in den schmalen Spalt zwischen Bett und Fenster, überprüfte, ob seine Klarsichtfolie zum Ersticken in Griffnähe war und konzentrierte alle seine Sinne auf die schlurfenden Schritte draußen im Flur.
*
Jimmy Braun roch es sofort. Er knallte seinen Rucksack in eine Ecke des Flurs und hielt witternd die Nase in die Luft. Eindeutig, es war ein unbekannter Geruch nach Schweiß, vermischt mit dem Gestank nach alten feuchten Tüchern oder Moder. Der Geruch war nicht sonderlich ausgeprägt, aber er war da und erzeugte bei Jimmy sofort ein unangenehmes Gefühl von Beklemmung. Zum ersten Mal seit langer Zeit wünschte er sich, sein Vater wäre zu Hause. Mit seinen dreckigen Sneakers schlurfte er übertrieben vorsichtig in die Küche, entdeckte sofort das Post-it auf der Kühlschranktür: „Pizza ist im Eisfach. Komme spät am Abend. XXX Tony.“
Jimmy knallte die Pizza in die Mikrowelle und ging ins Wohnzimmer, wo der Geruch noch stärker war als im Flur. Mit hängenden Schultern strich er an den Plattenregalen entlang, entdeckte einige LPs, die schräg in den Regalen standen. Das war ungewöhnlich, absolut nicht normal. Sein Vater war zwar unordentlich bis zum Abwinken, aber seine Plattensammlung hielt er in Schuss, da wäre jeder spießige Buchhalter vor Neid erblasst.
Plötzlich schrillte die Mikrowelle und Jimmy zuckte zusammen, doch als er die Pizza vor sich sah, war ihm irgendwie der Appetit vergangen. Was jetzt? Das Gefühl, dass etwas nicht stimmte, war immer noch da, verstärkte sich wieder, als Jimmy auf sein Zimmer zusteuerte, und er blieb unschlüssig stehen. Gegenüber war das Schlafzimmer seines Vaters. Vielleicht sollte er sich dort verkriechen wie ein kleiner Junge, der sich vor der Dunkelheit fürchtet? Wäre das eine gute Idee? Sich im Bett seines Vaters verstecken und warten, bis dieser wieder daheim
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