Frevel: Roman (German Edition)
leichte Übelkeit überkommt.
Die Kerzen sind fast heruntergebrannt, doch noch tanzen ihre Flammen in dem kalten Luftzug. In der verborgenen Kapelle ist es so kühl, dass mein Atem kleine Wölkchen vor meinem Mund bildet. Nach meiner Berechnung ist die Kapelle entstanden, indem der Raum, der jetzt die Bibliothek bildet, aufgeteilt und die hinterste Wand abgetrennt wurde, was bedeutet, dass wir uns ganz am Ende eines Flügels befinden, was die zugemauerten Fenster gegenüber der Tür bestätigen. Aber der konstante Luftzug lässt darauf schließen, dass es irgendwo noch eine andere Öffnung gibt, die nur hinter dem Spiegel zu finden sein kann. Ich nehme eine Kerze vom Altar und finde meine Theorie bestätigt, als ich mich dem Rand des Spiegels nähere und die Flamme fast erlischt.
Mir bleibt nur sehr wenig Zeit. Die dicke polierte Obsidianscheibe ist breit und höher als ein Mann – zumindest höher als ein Mann aus Neapel – und am Fuß in einen massiven Holzblock eingelassen. Ich stemme mich mit der Schulter dagegen, woraufhin er sich ein wenig bewegt, und jetzt besteht kein Zweifel mehr daran, dass die kalte Luft aus der Lücke zwischen Spiegel und Wand kommt. Ich setze einen Fuß gegen den hölzernen Halter, lehne mich mit dem Rücken gegen die Wand und versuche, den Spiegel fortzuschieben, dabei halte ich den Blick unverwandt auf die Tür zur Bibliothek gerichtet, da ich jeden Augenblick damit rechne, das leise Klirren des Schlüssels zu hören.
Alle Muskeln anspannend stemme ich beide Beine gegen den Sockel des Spiegels, bis ich ihn so weit von der Wand abgerückt habe, dass ein mit Holzbrettern vernagelter Kamin zum Vorschein kommt. Mein Herz wird bleischwer, aber als ich die Kerze näher daranhalte und die Flamme mit der Hand schütze, stelle ich fest, dass die Nägel nur lose eingeschlagen sind; es wäre ein Leichtes, sie herauszuziehen, wenn ich nur mehr Zeit hätte. Ich taste nach dem Messer, das ich unter den Schrank geschoben habe, stelle die Kerze außerhalb des Luftzugs ab und bohre die Klinge hinter den Nagel des obersten Bretts. Er lässt sich mühelos lockern, ich kann die Finger hinter das Brett schieben und es losreißen. Mit dem zweiten verfahre ich ebenso. Meine Hände zittern, weil ich mich so beeilen muss, meine Fingerspitzen sind von den Splittern blutig geschürft. Innerhalb weniger Minuten habe ich drei Bretter entfernt und ein Loch geschaffen, das groß genug ist, um mich hindurchzwängen und in den Kamin klettern zu können. Ich habe keine Ahnung, wie breit der Kaminmantel ist und ob man überhaupt bis nach oben gelangen kann, aber mir bleibt keine andere Wahl. Ich schiebe das Messer in die Scheide, lasse die Kerze widerstrebend zurück und bücke mich, um in die Lücke zu kriechen, dabei danke ich meinem Schöpfer dafür, dass ich die Gestalt eines Neapolitaners habe. Einer dieser hochgewachsenen, kräftigen Engländer wie Howard oder Sidney hätten hier keine Chance gehabt.
Im Kaminmantel hüllt mich eine undurchdringliche Finsternis ein, der Geruch nach Ruß und Moder steigt mir in die Nase. Ich spüre jene Panik in mir aufsteigen, die mich immer überkommt, wenn ich mich auf beengtem Raum befinde, die wilde Beschleunigung von Herzschlag und Atem, die schweißnassen Handflächen, das nackte Entsetzen, sich eingeschlossen zu wissen. Unter Aufbietung aller Willenskraft zwinge ich mich zur Ruhe und taste das Mauerwerk ab, bis ich auf das stoße, was ich zu finden gehofft habe – eine innen in den Kamin eingelassene Metallsprosse, die es den Kindern erleichtern soll, hineinzuklettern und ihn auszufegen. In diesem Kamin war seit Jahren niemand mehr, denke ich, als ich die Sprosse packe, mich in den Rauchfang ziehe und über meinem Kopf blind nach der nächsten Sprosse taste. Spinnweben verstopfen meinen Mund und meine Nase, und ich versuche, mich auf einige Gedächtnisübungen zu konzentrieren, um mich von der Vorstellung abzulenken, dass sich die Wände immer enger um mich schließen, während ich weiterklettere. Lose Ziegel zerbröseln und fallen den Schacht hinunter. Bald spüre ich, wie die Seiten meine Schultern berühren und die rußige Luft plötzlich frischer und kälter, irgendwie herbstlicher riecht. Ich kann nur beten, dass auf der Kaminspitze kein kunstvoll geschmiedeter Deckel sitzt und den Schacht zu meinem Gefängnis macht. Der Weg nach oben war kürzer, als ich gedacht hatte, ich kann die Nachtluft schon auf meinem Scheitel spüren, was mir hilft, die Angst zu
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