Frevelopfer
erinnerte sich an einen Flug nach Ísafjörður mitten im Winter bei total verrücktem Wetter. Sie hatte sich gefühlt, als sei sie in einen Katastrophenfilm geraten, in jene letzten Szenen, die einem Flugzeugabsturz vorausgehen. Sie hielt ihr letztes Stündlein für gekommen und betete vor sich hin, bis die Räder unsanft auf der vereisten Piste aufsetzten. Menschen, die sich überhaupt nicht kannten, fielen sich in die Arme. Wenn sie ins Ausland flog, ließ sie sich immer einen Gangplatz geben und versuchte, nicht daran zu denken, wie sich so ein unglaublich schweres, mit Passagieren und Gepäck vollgestopftes Flugzeug in die Lüfte erheben und dort oben halten konnte.
Am Flughafen wurde sie von Polizeikollegen in Empfang genommen, die mit ihr in das kleine Fischerdorf fuhren, wo die Mutter von Runólfur lebte. Eine dünne Schneedecke lag über allem, sie ließ das Herbstkleid der Vegetation noch röter und goldener wirken. Elínborg saß schweigend auf dem Rücksitz und blickte hinaus auf die Farbenpracht, war aber nicht imstande, sich auf die Schönheit der Natur zu konzentrieren. Sie musste immer wieder an Valþór denken. Sie hatte ein schlechtes Gewissen seinetwegen und wusste nicht, wie sie sich verhalten sollte. Vor etwa einem Monat hatte sie herausgefunden, dass er eine Blogseite im Internet unterhielt. Elínborg hatte schmutzige Wäsche aus seinem Zimmer geholt und auf dem Bildschirm gesehen, dass er über sich und seine Familie schrieb. Sie erschrak, als sie seine Schritte auf dem Flur hörte, und als sie sich in der Tür begegneten, tat sie so, als wäre nichts vorgefallen. Doch den Link hatte sie sich gemerkt, und mit einigen Gewissensbissen hatte sie den Familiencomputer im Fernsehzimmer eingeschaltet und den Link eingegeben. Es kam ihr so vor, als würde sie in der Privatkorrespondenz ihres Sohnes herumschnüffeln, obwohl sie genau wusste, dass die Seite allen zugänglich war. Der kalte Schweiß brach ihr aus, als sie sah, wie offen und freimütig er über sich selbst berichtete. Nichts von dem, was da auf seiner Blogseite stand, hatte er ihr oder Teddi gegenüber auch nur mit einem Wort zur Sprache gebracht. Von seiner Seite aus gelangte sie auf andere Blogs, und ihr wurde schnell klar, dass Valþórs Offenheit nichts Ungewöhnliches war. Die Leute schienen sich völlig ungeniert über sich selbst, ihre Familie und ihre Freunde, über ihre Unternehmungen und Vorhaben, Sehnsüchte, Gefühle, Ansichten und alles auszulassen, was ihnen durch den Kopf ging, während sie vor dem Rechner saßen. Eine Selbstzensur gab es offenbar nicht, da wurde kein Blatt vor den Mund genommen. Elínborg hatte sich nie die Mühe gemacht, auf Blogseiten herumzustöbern, abgesehen von denen, die etwas mit ihrer Arbeit zu tun hatten, und sie hatte nicht die geringste Ahnung gehabt, dass eines ihrer Kinder selbst bloggte.
Sie hatte sich seitdem ein paar Mal auf Valþórs Seite eingeloggt und gelesen, welche Musik er sich anhörte, welche Filme er sah, was er mit seinen Freunden unternahm, was er über die Schule sagte, über seine Einstellung zum Lernen und zu bestimmten Lehrern – alles Dinge, über die er nie mit seinen Eltern sprach. Er zitierte sogar Elínborg im Zusammenhang mit einer kontroversen Diskussion über das Schulsystem. Er ließ sich über die Hochbegabung seiner Schwester aus und darüber, wie schwierig es war, Lernstoff für sie zu finden, weil sich sämtlicher Stütz- und Begleitunterricht an den Nieten orientierte, so hatte Valþór seine Mutter zitiert!
Elínborg wurde böse, als sie sah, dass der Junge sich auf sie berief. Er hatte kein Recht, ihre Ansichten in der Öffentlichkeit zu verbreiten. An einer Stelle verwies Valþór auch auf seinen Vater, aber da ging es in erster Linie um Autos, außerdem gab der Junge einen ziemlich anrüchigen Witz seines Vaters zum Besten.
»Spinnt der?«, hatte Elínborg gestöhnt.
Ihre Aufmerksamkeit richtete sich aber vor allem auf die Tatsache, dass der Junge im Hinblick auf das andere Geschlecht unzweifelhaft sehr umtriebig war. Es war also keineswegs ein Zufall, dass sie das Kondom in seiner Hosentasche gefunden hatte. Er nannte immer wieder Namen von Mädchen, die er kannte, und erzählte von ihren gemeinsamen Vergnügungen, von Schulbällen, Kinobesuchen und Zeltfahrten, über die Elínborg kaum etwas wusste. Unter der Überschrift »Kommentieren« erschienen Reaktionen auf Valþórs Schreibereien, und Elínborg hatte den Eindruck, dass da mindestens zwei,
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