Frevelopfer
Elínborg bekam das Gefühl, dass diese Frau in irgendeiner Weise in Zeit und Raum zurückgelassen worden war. Trotz der großen Umwälzungen in Island war ihre Welt unverändert geblieben. In gewissem Sinne erinnerte Kristjana Elínborg an Erlendur, der sich ebenfalls nie von seiner Vergangenheit hatte lösen können oder wollen. Er klammerte sich an eine alte Gedankenwelt, an alte Sitten und Werte, die im Verschwinden begriffen waren, ohne dass irgendjemand es bemerkte oder sie vermisste.
Wie konnte man einer solchen Frau von einer Vergewaltigungsdroge in der Jackentasche ihres Sohnes erzählen?
»Wann hast du zuletzt von ihm gehört?«, fragte Elínborg.
Kristjana zögerte einen Moment, als würde ihr eine so selbstverständliche Frage Kopfzerbrechen bereiten.
»Wahrscheinlich ist es mehr als ein Jahr her«, sagte sie schließlich.
»Mehr als ein Jahr?«, echote Elínborg.
»Wir hatten kaum Kontakt«, sagte Kristjana.
»Ja, aber ist es wirklich mehr als ein Jahr her, seit du von ihm gehört hast?«
»Ja.«
»Und wann hast du ihn zuletzt gesehen?«
»Er ist vor drei Jahren einmal zu Besuch gekommen, blieb aber nur kurz, kaum eine Stunde. Außer mit mir hat er mit niemandem geredet. Er sagte, er hätte hier in der Nähe zu tun gehabt, und er hatte es furchtbar eilig. Ich weiß nicht, wohin er wollte, ich habe ihn nicht danach gefragt.«
»Die Beziehung zwischen euch war also schlecht?«
»Nicht unbedingt. Ich hatte ihm wohl nichts zu bieten.«
»Und du? Hast du ihn nicht angerufen?«
»Er wechselte dauernd die Telefonnummer, und da habe ich es irgendwann aufgegeben. Er hatte anscheinend auch kein Interesse daran, und ich wollte ihn nicht belästigen. Von mir aus konnte er seine Ruhe vor mir haben.«
Beide schwiegen eine Weile.
»Wisst ihr, wer es getan hat?«, fragte Kristjana schließlich.
»Wir wissen noch gar nichts«, antwortete Elínborg. »Die Ermittlung läuft gerade erst an …«
»Und kann womöglich lange dauern?«
»Ja, das ist möglich. Du hast also nicht viel über sein Privatleben gewusst, seine Freunde oder die Frauen in seinem Leben?«
»Nein, und ich wäre wohl die Letzte gewesen, die etwas darüber erfahren hätte. Hat er mit einer Frau zusammengelebt? Als ich das letzte Mal von ihm gehört habe, war das nicht der Fall. Ich brachte es jedes Mal zur Sprache und fragte, ob er nicht eine Familie gründen wolle und dergleichen. Darauf ist er nie eingegangen, er empfand es vermutlich als Einmischung.«
»Wir nehmen an, dass er allein gelebt hat«, sagte Elínborg. »Sein Vermieter war sich da ziemlich sicher. Hatte er Freunde hier im Dorf?«
»Die sind alle weggezogen. Die jungen Leute gehen. Das ist nichts Neues. Sie reden darüber, die Grundschule zu schließen und die Kinder morgens mit dem Bus ins nächste Dorf zu bringen. Hier sieht alles seinem Ende entgegen. Wahrscheinlich hätte ich auch wegziehen sollen, in dieses wunderbare Reykjavík. Da bin ich noch nie gewesen, und das habe ich auch nicht vor. Früher war man einfach nicht dauernd unterwegs, und irgendwie hat es sich so ergeben, dass ich niemals in die Hauptstadt gekommen bin. Als ich auf die fünfzig zuging, war es mein fester Vorsatz, nie nach Reykjavík zu fahren. Mir ist es völlig egal, ob ich da etwas verpasse. Ich habe da einfach nichts verloren. Gar nichts. Du bist vermutlich dort aufgewachsen?«
»Ja«, sagte Elínborg, »und ich mag die Stadt sehr. Ich kann die Leute gut verstehen, die dort hinziehen und dort leben möchten. Dein Sohn hatte also gar keine Kontakte mehr hier im Dorf?«
»Nein«, erklärte Kristjana nachdrücklich. »Nicht, dass ich wüsste.«
»Hat er hier jemals irgendwelche Schwierigkeiten gehabt? Ist er mit dem Gesetz in Konflikt geraten? Hat er hier Feinde gehabt?«
»Hier? Nein, auf keinen Fall. Aber ich weiß nicht viel über ihn, seit er weggezogen ist. Wie du vielleicht gemerkt hast, bin ich viel zu wenig auf dem Laufenden über sein Leben, als dass ich diese Fragen beantworten könnte. Leider. Er war halt so, wie er war.« Sie starrte Elínborg an. »Weiß man, wie die Kinder geraten? Hast du Kinder?«
Elínborg nickte.
»Weißt du, was die alles machen?«, fragte Kristjana, und Elínborg musste an Valþór denken. »Was weiß man, was denen in den Sinn kommt«, fuhr Kristjana fort. »Ich weiß, es ist sehr unmodern, so etwas zu sagen. Ich habe meinen Sohn nicht gut gekannt, ich wusste nicht, was er machte oder was er dachte. Ich denke, dass ich da kein Einzelfall bin. Die
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