Frevelopfer
wenn nicht sogar drei Freundinnen ihre Krallen nach ihm ausstreckten.
Das Auto schoss an einem bunten Herbstwald vorbei, während Elínborg beim Gedanken an Valþórs Blogseite leise fluchte.
»Entschuldige, was hast du gesagt?«, fragte der Polizist am Steuer. Der andere auf dem Beifahrersitz schien zu schlafen. Sie hatten sie über Runólfurs Mutter und das kleine Fischerdorf informiert, in dem sie lebte, aber ansonsten die ganze Strecke geschwiegen.
»Nichts, entschuldige bitte, ich bin leicht erkältet«, sagte Elínborg und fischte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche. »Gibt es in dem Dorf eine Polizeidienststelle?«
»Nein, dafür gibt es keinen Etat. Das kostet zu viel. Aber dort passiert ja ohnehin nie was, jedenfalls nichts von Belang.«
»Ist es noch weit?«
»Eine halbe Stunde«, sagte der Polizist. Dann schwiegen sie wieder, bis sie am Ziel waren.
Runólfurs Mutter lebte in einer der zwei kurzen Reihenhauszeilen des Ortes. Sie erwartete den Besuch der Kriminalpolizei und nahm Elínborg an der Tür in Empfang, sie wirkte müde und abgespannt. Sie grüßte nicht, sondern öffnete nur die Tür und ging wieder ins Haus. Elínborg trat ein und schloss die Tür hinter sich. Sie wollte allein mit der Frau reden.
Der Tag ging bereits zur Neige. Das Wetteramt hatte Schneeschauer vorausgesagt, doch gerade brach die strahlende Sonne für einen Augenblick durch die Wolken und tauchte das Wohnzimmer in ihr Licht. Doch es wurde genauso schnell wieder dunkel, als die Sonne verschwand. Die Frau hatte in einem Sessel Platz genommen, der vor dem Fernseher stand. Elínborg setzte sich aufs Sofa.
»Ich möchte keine Details wissen«, erklärte die Frau, die Kristjana hieß. »Der Pfarrer hat mir einiges gesagt. Ich sehe und höre auch keine Nachrichten mehr. Ich weiß nur etwas über einen brutalen Überfall mit einem Messer. Ich möchte keine Einzelheiten erfahren.«
»Mein Beileid«, sagte Elínborg.
»Vielen Dank.«
»Diese Nachricht ist natürlich ein furchtbarer Schock für dich gewesen.«
»Ich kann gar nicht beschreiben, wie ich mich fühle«, erklärte Kristjana. »Ich fand es schon unbegreiflich, als mein Mann starb, aber das hier … Das hier … Das …«
»Gibt es niemanden, der jetzt bei dir sein könnte?«, fragte Elínborg, als die Frau mitten im Satz verstummte.
»Wir haben ihn spät bekommen«, sagte Kristjana, als hätte sie die Frage nicht gehört. »Ich war schon fast vierzig. Baldur, mein Mann, war vier Jahre älter als ich. Wir haben uns erst spät kennengelernt. Ich hatte zuvor einige Jahre mit einem anderen Mann zusammengelebt, und Baldur hatte seine Frau verloren. Wir waren beide kinderlos. Deswegen war Runólfur … Außer ihm haben wir keine Kinder bekommen.«
»Ich weiß, dass man dich das schon gefragt hat, als man dich über den Tod deines Sohnes informiert hat, aber ich möchte es noch einmal fragen: Kannst du dir vorstellen, dass ihm jemand etwas Böses gewollt hat?«
»Nein, und genau das habe ich der Polizei auch gesagt. Ich kann mir niemanden vorstellen, der ihm etwas derartig Böses wollte. Ich kann mir einfach nicht vorstellen, wer so etwas tun würde. Meiner Meinung nach muss das so etwas wie ein schrecklicher Unfall gewesen sein, wie ein Verkehrsunfall. Auf diese Weise ist mein Mann ums Leben gekommen. Es hieß, er sei wahrscheinlich am Steuer eingeschlafen. Der arme Mann in dem Laster hat gesagt, er hätte den Eindruck gehabt, Baldur sei eingenickt. Ich habe mich nicht selbst bemitleidet, obwohl ich allein zurückblieb. Man darf sich nicht selbst bemitleiden.«
Kristjana verstummte wieder. Auf dem Wohnzimmertisch stand ein Karton mit Papiertüchern, sie zog eins heraus und zerknüllte es zwischen ihren Händen.
»Man darf sich nicht ständig bemitleiden«, wiederholte sie.
Elínborg beobachtete die Frau mit den alten Händen, die das Papiertuch zusammenknüllten. Ihr Haar war im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, ihre Augen waren lebendig. Kristjana war siebzig und hatte ihr ganzes Leben in diesem Dorf fernab der Hauptstraßen gelebt. Von den beiden Polizisten wusste Elínborg, dass Kristjana nie in ihrem Leben in Reykjavík gewesen war. Ihr Sohn lebte zwar seit über zehn Jahren dort, aber sie war der Meinung, dass sie nichts in der Stadt verloren hatte. Nachforschungen hatten ergeben, dass er nur äußerst selten, eigentlich so gut wie nie, zu Besuch kam. Zahlreiche Menschen waren in den vergangenen Jahrzehnten aus dem Dorf abgewandert, und
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